ROBERT MISIK —
27.04.2022
2012 wurde in Russland die bisherige Militärführung in die Wüste geschickt und durch eine neue ersetzt. Putins enger Freund Sergeij Schoigu wurde Verteidigungsminister, Walerij Gerassimow neuer Generalstabschef. Gerassimow legte 2013 eine Art neue Militärdoktrin vor und argumentierte sie in Hintergrundgesprächen durch. Künftige Kriege werden „neue Arten von Kriegen“ sein, und in diesen werden auch viele „nichtmilitärische Methoden eingesetzt, um politische und strategische Ziele zu erreichen“, so der Militär. Politische Methoden, ökonomische, informationstechnische, kommunikative Methoden (mehr dazu in: Fiona Hill/Clifford Gaddy: Mr. Putin. Operative in the Kremlin.)
Der Krieg der Gegenwart sei ein „hybrider Krieg“. Genauer: Ein solcher Krieg tobe bereits, nämlich der Krieg des Westens gegen Russland. All diese Methoden werden gegen Russland eingesetzt, inklusive des Einsatzes „des Protestpotentials der Bevölkerung“. Soll heißen: Putin-Kritiker werden vom Westen ermutigt, und das sei auch Krieg. In solchen Kriegen werde mit Desinformation, mit Lüge, mit Aufstachelei gearbeitet und mit dem Versuch, Hader zu schüren. Man werde diese Methoden auch gegen den Westen einsetzen, um ihn abzuschrecken, zur militärischen Phase des Krieges überzugehen. Wladislaw Surkow, Putins dämonischer Spindoctor und PR-Genie, hat in einem literarischen Text das Szenario eines „nichtlinearen Krieges“ entwickelt (weiterlesen in: Peter Pomerantsev, „Nichts ist wahr und alles ist möglich. Abenteuer in Putins Russland“.
Erinnern wir uns noch einmal an den Satz von Angela Merkel, wonach Putin in seiner eigenen Welt lebe (siehe Folge Neun). Wir dürfen annehmen, dass es in etwa die Welt ist, die Gerassimow da schildert. Aus dieser Sicht ist dann alles, was Putin seit einem Jahrzehnt macht, nur eine Notwehr gegen diesen westlichen hybriden Krieg. Oft wird bemerkt, dass Putin immerzu lügt. Aber ist das aus seiner Sicht eine moralisch verwerfliche Unehrlichkeit? Abgesehen von der Frage, ob solche moralischen Erwägungen für Putin persönlich und einen Geheimdienstler im Allgemeinen (für dem Täuschen quasi zum Beruf dazu gehört) oder überhaupt für einen Machtpolitiker eine Kategorie sind, wäre es das natürlich nicht. Die Lüge ist dann einfach eine Waffe in dem Krieg, in dem Russland die Rolle des Bedrohten innehat, des Opfers, das sich nur wehrt. Im hybriden Krieg sind Lügen Part of the Game.
Putins PR trommelt dabei platte, ja verrückteste Propaganda, aber sie versucht zugleich, bereits vorhandene Konflikte im Westen zu schüren, die Schwächen der pluralistischen Demokratien auszunützen. Er infiltriert die Diskurse, rennt sozusagen offene Türen ein. Der Judo-Meister Putin hat dafür bestimmt eine Ader, wie man „Verwundbarkeiten“ des Gegners nützt. Er hätschelt die rechten Populisten und harten Rechtsextremen, umgarnt Marine Le Pen, Strache, Nigel Farage, Matteo Salvini und Co., er griff direkt in den US-Wahlkampf ein, der Donald Trump ins Weiße Haus brachte. Der Kreml unterstützt mit seinen Fake-News-Medien deren Diskurse – Islam, Brexit, Immigration, instrumentalisierte Corona-Leugner. Regressiven Linken wiederum präsentiert er sich als Widersacher gegen die amerikanische Weltordnung und den Neoliberalismus. Die Gender-Diskurse des Westens stellt Putin als Symptom einer Dekadenz dar und sich selbst als Posterboy für all jene, die noch „richtige Männer“ oder „richtige Frauen“ sein wollen.
Wie Peter Pomerantsew formuliert: „Der Kreml sendet willkürlich wechselnde Botschaften, die seinen Zielen nutzen, bedient alle und jeden: Die rechten Nationalisten Europas werden mit EU-feindlichen Botschaften gelockt; die extreme Linke wird durch den angeblichen Kampf gegen die Vorherrschaft Amerikas vereinnahmt; religiöse Konservative in den USA werden durch den Kampf des Kremls gegen Homosexuelle überzeugt.“
Die Erfahrung lehrt, dass Putin alle Instrumente einsetzt, die ihm zur Verfügung stehen, so Fiona Hill. Dass er keine Grenzen kennt. Darauf muss man sich einstellen. Quelle: „‚Yes, he would‘ – Fiona Hill on Putin and Nukes.“
Es ist nicht die Frage, ob Putin alles einsetzen wird, was er hat, um seine Interessen durchzusetzen. Die Frage ist vielmehr: Was sind eigentlich seine Interessen?
Den Zusammenhalt des multinationalen russischen Imperiums zu sichern – und verlorenes Territorium wieder zurückzugewinnen –, das hat er immer wieder als seine historische Mission bezeichnet. Wie weit das aber gehen wird? Fix ist, dass Russland expansiv ist – unklar ist, wie weit das reicht.
Das allein ist schon einmal ein ganz wichtiger Punkt, eine Erkenntnis, die viele im Westen am falschen Fuß erwischte. Denn die meisten westlichen Regierungen und Außenpolitik-Expertinnen und -Experten haben ihr Verhältnis zu Putins Russland entlang ihrer Erfahrungen mit der Sowjetunion modellierten. Jetzt bemerken sie: Die Sowjetunion war ein bequemer Konkurrent, weil sie seit den fünfziger Jahren eigentlich nur an der Aufrechterhaltung des Status Quo interessiert war, was für Russland eben nicht gilt. Manche Kreml-Ideologen schwadronieren von einem Eurasien „von Lissabon bis Wladiwostok“. Auch Dimitrij Medwedew, der seinerzeitige Präsidenten-Statthalter und Putin-Weggefährte seit Sankt Petersburger Tagen sprach unlängst davon. Und selbst wenn das nur Propagandageflunker sein mag – dass Russland an der Veränderung des Status Quo, nicht an dessen Zementierung interessiert ist, ist offenkundig.
Wahrscheinlich ist aber natürlich, dass Putin primär den Griff auf die einstigen russischen Peripherieregionen fixieren will. Aber was erhofft er sich eigentlich davon? Wir leben nicht mehr im 19. Jahrhundert, als die Leute höchstens Eselskarren hatten, der Zar in Moskau weit entfernt war und man Georgien oder die Ukraine einfach so „besaß“, ohne dass daraus allzu viel folgte. Heute ist Territorium ein Gewinn, wenn auf demselben die Wirtschaft prosperiert, wenn Werte geschaffen werden, wenn es ökonomischen Nutzen bringt und nicht nur eine Belastung. Außerdem kann man in zeitgenössischen Informationsgesellschaften auf Dauer nicht bequem gegen die Bevölkerung regieren. Die bestausgebildeten jungen Leute machen sich dann beispielsweise schnell aus dem Staub. Der ökonomische Preis dafür ist sehr hoch. Mit der Knute und rein repressiv kann man jedenfalls nicht regieren, es braucht mindestens eine Art des passiven Einverständnisses der Leute, dass die ihre Leben leben, ihre Karrieren verfolgen, und die Politik ignorieren. Aber wie soll das, beispielsweise, in der Ukraine jemals funktionieren? Nach diesem Krieg wird es Jahrzehnte des Hasses geben, und außerdem liegt die Ukraine in Schutt und Trümmern.
Russlands Wirtschaft ist schon in den vergangenen zehn Jahren ins Hintertreffen geraten, dieser Abstieg wird durch die Sanktionen und die Isolation noch weiter gehen. Das ist – auch innerhalb von Putins Rationalität, also in „seiner eigenen Welt“ – nicht gerade irrelevant. Putin zerstört sein eigenes Land.
Gerne spricht die russische Führung von der „post-westlichen Welt“, und das wirkt auf dem ersten Blick ja durchaus schlüssig als Idee, das russische Gewicht in der Welt zu erhöhen: Man orientiert sich vom Westen weg, geht in Konflikt mit Europa und den USA, also den bisher dominanten Weltregionen, die heute ohnehin nur mehr wie windschiefe Hühnerställe dastehen. Mit China, mit Indien, mit anderen aufstrebenden Mächten bildet man eine Art neuen Block, aber nicht einmal das ist nötig – es reicht ja, wenn man eine fluide Ordnung etabliert, in der verschiedene Mächte multiple Zentren bilden. Dann ist eine multipolare Ordnung etabliert. Die Frage ist aber: Ist das für Russland eigentlich so eine gute Aussicht?
Anders gefragt: War nicht die bisherige Balance für Russland optimal? Als europäische Macht, die bis zu einem gewissen Grad im Westen integriert ist, zugleich ihre Eigenständigkeit und eine Sonderexistenz behauptet und wirtschaftliche Druckmittel gegenüber Europa hat, hatte Russland Gewicht. Gegenüber den Staaten der europäischen Union hat Russland Bedeutung. Denn die Mitgliedsländer der Europäischen Union sind als einzelne relativ klein, und als Union in Widersprüchen gefangen. Man kann sie wirtschaftlich abhängig machen und gegeneinander ausspielen. Hier kann Russland mit Machtpolitik punkten, trotz des miserablen Zustandes des Landes und seiner wirtschaftlichen Schwächen. Russland ist riesig, das größte Flächenland der Welt, aber als Volkswirtschaft ist das Land auf Platz 11 zurückgefallen und produziert praktisch keine avancierten Technologien. Es ist in dieser Hinsicht völlig abhängig vom Ausland. Ein solches Land kann nur gegenüber Europa mächtig sein.
Wendet es sich vom Westen ab, ist es in einer ganz anderen Lage. Wenn sich Putin in die Arme Chinas werfen will, kann man ihm nur sagen: Viel Spaß damit. Für China ist Putin nicht viel mehr als ein Tankwart mit Atomwaffen. Er hat Öl, Gas, Nuklearraketen – und sonst praktisch nichts. Ökonomisch ist Russland für China ein Zwerg. Gegenüber Europa kann er sich als Machtpolitiker aufspielen, wenn er von China abhängig ist, ist er eine Kolonie. Quasi ein kleines Oblast im Nordwesten, das als Rohstofflieferant nützlich ist.
Zugleich schreckt Russland alle Nachbarn in einer Weise ab, die zu jahrzehntelanger Feindschaft und einfach panischer Angst führen wird, sodass alle ihre Sicherheitsinteressen wo anders geschützt sehen wollen. Das betrifft nicht nur die Ukrainer die direkt angegriffen wurden, oder Finnland (das Land will jetzt so schnell wie möglich in die Nato, Schweden ebenso), oder das kleine Georgien, Moldawien, Rumänien, Bulgarien. Das wird weitere Kreise ziehen. Auch Kasachstan und andere zentralasiatische Staaten werden ab jetzt im Kopf haben, dass sie jederzeit von Russland überfallen werden können. Kasachstan wendet sich jetzt schon merkbar von Russland ab. Russland wird so isoliert sein, wie es niemals war.
Putins Propaganda schürt die narzisstische Kränkung, die aus der Niederlage im Kalten Krieg rührte, trommelte, dass Russland nicht mir Respekt behandelt werden würde, sie verweist auch auf Fehler des Westens (vornehmlich der Bush-Administration übrigens), die tatsächlich gemacht wurden, aber sie übertreibt damit auch maßlos. Wie andere Staaten vorher in vergleichbaren Lagen etabliert sich so eine Spirale der Radikalisierung, die die Fähigkeit beeinträchtigt, „mit anderen Staaten Bündnisse einzugehen“, wie der Moskauer Soziologe Grigori Judin formuliert. Letztendlich führt das dazu, dass der Kreml selbst daran arbeitet, „eine mächtige militärische und wirtschaftliche Allianz gegen sich zu erschaffen“ (Quelle: Grigori Judin „Russland wird auf‘s Schrecklichste verlieren.“)
Stellt man das alles nüchtern in Rechnung, muss man konstatieren: Putin kann keine Freude mit den Veränderungen haben, die er bewirkt hat.
Kurzum: Putins Strategie hat zumindest Elemente des Irrationalen und es ist unklar, was er überhaupt will, und ob er all das wirklich zu Ende gedacht hat. Die Ideologie, die sich sein Regime in seinem Radikalisierungsprozess zusammengezimmert hat, ist einem faschistischen Wahnsystem nicht mehr unähnlich. Seine Zurechnungsfähigkeit ist zumindest in Frage gestellt. Die Rhetorik, mit der die russische Bevölkerung seit Jahren schon bombardiert wird, wirkt enthemmend, brutalisierend. Es ist genau die Sprache, die man braucht, um Bevölkerungen dazu zu bringen, am Ende auch einen Völkermord zu begehen. Mit der permanenten, fast schon hysterischen Beschwörung der Erinnerung an den „großen vaterländischen Krieg“ insinuiert Putins Machtclique einerseits, dass man von einem kriegerischen Westen bedroht ist, mit der Aussicht auf eine eurasische Neuordnung von „Lissabon bis Wladiwostok“ dreht man das (defensive) paranoide Bedrohungsgefühl in ein (offensives) imperiales Projekt. Verrückt? Ja, klar. Aber dass wir Putins verrückte Rhetoriken nicht ernst nehmen, diesen Fehler haben wir schon einmal gemacht, und den sollten wir nicht wiederholen.
Ein waffenstarrender, despotischer politischer Machtblock formiert sich, er unterstützt die Feinde der Demokratie bei uns, versucht mit seinen Trollarmeen und seinen nützlichen Idioten die demokratischen Lebensweisen wo immer möglich zu destabilisieren. Wir sollten ihn ernst nehmen, ihn verstehen zu versuchen, und begreifen, dass es wieder notwendig ist, die Demokratie und die freiheitliche Lebensweise zu verteidigen. Wir sollten zumindest wissen, womit und mit wem wir es zu tun haben, und alles an Wissen zusammentragen, das habhaft ist. Natürlich weiß man nicht genau, was auf uns zukommt. Natürlich wissen wir auch nicht genau, was uns noch abverlangt werden kann und schon gar nicht wissen wir genau, was jetzt die schlaueste Vorgangsweise ist. Aber wir wissen jetzt auch schon: Putin kennt keine Grenzen. Er hat sich in der Ukraine, beispielsweise, nicht mit einem kontrollierten Konflikt begnügt, sondern einen unkontrollierbaren Großkrieg vom Zaun gebrochen.
Niemand will Krieg. Wir wissen, dass wir alles tun müssen, einen noch größeren europäischen Krieg zu vermeiden. Wir wissen aber zugleich auch, dass es manchmal nötig ist, faschistischen, imperialen Despotien entgegenzutreten. Es ist gewissermaßen beides wahr: Einerseits, der Ruf „die Waffen nieder!“ Und, andererseits, die Lehre der Geschichte, dass gewaltgeneigten Autokraten nicht immer durch gutes Zureden zu begegnen ist, schon gar nicht, wenn man direkt von ihnen überfallen wird.
Eine aggressive Despotie hat die Post-1989-Architektur zerstört, und eine neue Friedensordnung werden wir wohl so bald nicht zurückbekommen. Russland wird bestehen bleiben, auch Putin oder zumindest sein Regime werden uns wohl noch länger beschäftigen. Ein Regimewechsel ist nicht in Sicht und er kann von außen jedenfalls nicht herbeigeführt werden. Putins Russland wird fortexistieren und für unsere Weltregion destabilisierend bleiben, viel mehr als Nordkorea oder andere Staaten dieser Art. Wird man dieses Russland dann völlig isolieren können und müssen, eine neue Containmentpolitik betreiben, es also einschnüren, schwächen? Wird ein neuer Eiserner Vorhang nieder gehen? Wird irgendwann der Augenblick für eine neue Entspannungspolitik kommen? Was wird all das mit unseren Gesellschaften machen? Oder sind das sowieso sinnlose Fragen an die spätere Zukunft, wo wir doch nicht einmal noch wissen, was die nächste Woche an Überraschungen bereithält?
Wenn die Zukunft ungewiss ist, tut man gut darauf, sich auf verschiedene Eventualität und mehrere Möglichkeiten einzustellen und am besten beginnt man damit, sich von der Realität ein glasklares Bild zu machen. Und sich mit den Fragen vertraut zu machen, mit denen wir noch zu tun bekommen werden. Schnell lernen, und nachholen, was wir vielleicht versäumt haben.
Zuletzt erschienen:
Nr. 9 Putin „lebt in seiner eigenen Welt“ (26.04.2022)Nr. 8 Die Geschichte als Waffe (23.04.2022)
Nr. 7 Der KGB-Mafia-Kapitalismus (21.04.2022)
Nr. 6 Der Mann, der unsere Gehirne hackt (19.04.2022)
Nr. 5 Putins schlimmster Alptraum (15.04.2022)
Nr. 4 „An seinen Eiern aufhängen“ (13.04.2022)
Nr. 3 Putins brauner Philosoph (11.04.2022)
Nr. 2 Der Rächer des beleidigten Russland (07.04.2022)
Nr. 1 „Ich war ein echter Schläger“ (06.04.2022)