Die Geschichte als Waffe

Putin verstehen VIII. Ukraine? Gibt’s doch gar nicht! Putin inszeniert sich als der oberste Historiker des Landes. Gerade in Hinblick auf die Ukraine ist es zentral – und extrem fatal.


ROBERT MISIK

23.04.2022

Von der pseudowissenschaftlichen Geschichtsbetrachtung zum genozidalen Denken – und von dem zum Verbrechen – ist es oft nur ein kleinerer Schritt, als man denkt. Scharfmacher im russischen Fernsehen plädieren jetzt offen vor laufender Kamera dafür, dass die „Idee des Ukrainischen ein für alle Mal ausgelöscht“ werden müsse. Ein Handbuch, das immerhin durch die staatliche Nachrichtenagentur RIA Nowosti verbreitet wurde, bringt die Formel, dass Russland in der Ukraine gegen eine Regierung von Gangstern und Nazis kämpfe, auf einen simplen Nenner. Nämlich: Ein Nazi ist in der Ukraine jeder, der den russischen Charakter des ukrainischen Volkes abstreite. Das sei „Ukronazismus“, und der sei für Russland gefährlicher als der Hitlernazismus. Dieser „Ukronazismus“ und alle seine Organisationen und Unterstützer müssen besiegt werden. Eine bemerkenswerte Theorie: Ein Nazi ist ein Ukrainer, der sich zuzugeben weigert, dass er Russe ist. Timothy Snyder, der große Mittel- und Osteuropa-Historiker nennt das eine „Anleitung zum Völkermord“. (vgl. Timothy Snyder: Russia’s Genozide Handbook)

Ein Diskurs entgleist, ein ganzes Land und ein Regime schraubt sich in den Irrsinn hinein. Aber hinter diesen Wortmeldungen steht ein allmählich aufgebautes Geschichtsbild, das nicht in allen Aspekten verrückt ist, sodass es nicht von Beginn an völlig unplausibel erscheint.

Was hier geschieht: Ein politischer Gebrauch der Geschichte für aktuelle politische Großmachtpolitik. Friedrich Nietzsche verdanken wir das Apercu vom „Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben“. Es ist nicht zu bestreiten, dass „ein Übermaß an Historie dem Lebendigen schade“, auch wenn Nietzsche das ein wenig anders gemeint hat. Geschichte kann den Anspruch auf Territorien begründen. Sie dient stets dazu, aktuelle Politik zu legitimieren. Mit Hilfe von Geschichte kann sich der Täter auch zum Opfer stilisieren, das sich ja nur wehrt. Geschichte kann lähmen und in Nostalgie gefangen halten. Häufig ist sie einfach tödlich.

Es beginnt aber nicht immer mit dem voll entfalteten Irrsinn – sondern meist vergleichsweise unauffällig. „Putin inszeniert sich zum einen als oberster Historiker des Landes, der ‚wissenschaftliche‘ Artikel publiziert, lange und gerne über Geschichte doziert, und zugleich als historische Persönlichkeit, d.h. als Vollender einer ‚geschichtlichen Mission‘, die in der Wiederherstellung der territorialen Einheit des ‚historischen Russlands‘ besteht. Wie Putin in alter imperialer Tradition vielfach argumentiert hat, gehört für ihn dazu auch die Ukraine“, schreibt Riccardo Nicolosi. Putin lässt streuen, dass er viel lese, vor allem historische Werke, und seine Propagandareden sind oft leise, dozierend, manchmal schulmeisterlich, eher im Ton des Oberstudienrates, der Bescheid weiß, und denen, die nicht Bescheid wissen, jetzt erklärt, was Sache ist. (vgl. Riccardo Nicolosi: Erniedrigte und Beleidigte)

Im Zentrum der Putinschen neo-imperialen Politik steht seit längerem schon das ukrainische Problem. Erstens, weil die Ukraine von Russland wegstrebt, und zwar mit mehr Erfolg als beispielsweise Weissrussland, wo solches Begehren stets mit Gewalt im embryonalen Stadium verhindert wurde. Zweitens, weil die Ukraine allein ihrer Ausdehnung wegen elementar für Russland ist. Ohne die Ukraine ist das historische Russland amputiert, und wenn es Großmacht sein will, dann muss es die Ukraine kontrollieren, das kann man drehen wie man will.

Im vergangenen Sommer veröffentliche Wladimir Putin einen sehr langen Essay „über die historische Einheit von Russen und Ukrainern“. Es ist eine geschichtliche Abhandlung, die grob gesprochen aus drei Teilen besteht: Erstens einer weit zurück ausgreifenden historischen Betrachtung, zweitens der These, dass die heutige Ukraine wesentlich aus russischem Kernland besteht, auf die sie keinen Anspruch hat, und drittens einem „aktuellen“ Teil, der behauptet, dass die heutige Ukraine zur Speerspitze antirussischer Politik geworden sei, was Russland nicht akzeptieren würde. Kurzum: Schulmeisterei, garniert mit Revisionismus und Drohungen. (vgl. Vladimir Putin: On The Historical Unity of Russians and Ukrainians“)

Putin beschreibt, dass das heutige „Russland“ und die heutige „Ukraine“ geschichtlich einen gemeinsamen Ursprung hatten, beginnend mit der „Kiewer Rus“, der Wiege des Russentums. Man habe seit 1000 Jahren eine gemeinsame Geschichte, eine gemeinsame Religion (die Orthodoxie) und eine gemeinsame Sprache gehabt. Die russischen Gebiete der heutigen Ukraine wären bald als „Malorossia“ bezeichnet worden, als „Kleinrussland“. Von äußeren imperialen Gefahren heimgesucht (beginnend mit Dschingis Khan), waren die Regionen der heutigen Ukraine gewissermaßen die Frontgebiete, weshalb sie auch ein Synonym für „Militärgrenze“ waren. Der Begriff „Okraina“ selbst ist historisch einfach der Begriff für „Grenzland“, „Peripherie“. Noch heute wird mit „Okraina“ beispielsweise die Vorstadt, die Trabantenstadt bezeichnet (die Großfeldsiedlung wäre sozusagen die Okraina von Wien). Auch im habsburgischen Österreich hieß die Militärgrenze, die das Land gegen Einfälle der Osmanen absicherte, „Kraina“. Heutige Begriffe wie etwa „Krainaserben“ haben hier ihren Ursprung, und auch so manche andere Vokabel, etwa aus der Kulinarik – man denke daran beim Verzehr der nächsten „Käsekrainer“ beim Würstelstand.

Die Ukraine sei also einfach der „Rand“, so Putin. Teile der heutigen Ukraine, wie etwa der Donbass und vor allem die Krim, hätten zudem immer zum russischen Kerngebiet gezählt. Mit dem Ersten Weltkrieg und dem Aufkommen der Idee vom „Selbstbestimmungsrecht der Nationen“ – eine Idee, die selbst natürlich machtpolitisch instrumentalisierbar ist, weil man durch ihre Propagierung Imperien bekämpfen kann –, weiters mit den Wirren der Revolution und Konterrevolution, haben Lenin und seine Bolschewiki das Streben nach Selbständigkeit der Völker einfach machtklug ausgenützt. So habe Lenin die moderne Ukraine quasi künstlich erzeugt, und die Sowjetunion als „Union der sozialistischen Sowjetrepubliken“ – als Allianz scheinbar unabhängiger Nationen – etabliert. Ein Trick, der lange keine großen Auswirkungen hatte, weil das Regime der KPdSU sowieso alle Opposition unterdrückte, weshalb das Sezessionsrecht auch nur am Papier stand, genauso wie die Demokratie.

Nichts von dem ist völlig falsch und total erfunden, vieles davon sogar richtig. Bemerkenswert ist allenfalls, worauf sich Putin konzentriert und was er einfach so mit ein paar Worten abtut. Das Erwachen einer ukrainischen Nationalbewegung ist ihm nicht viele Worte wert, und wo, wird sofort dazu gesagt, dass sie vom feindlichen Ausland immer inspiriert wurde. Das ist nun keine spezielle Besonderheit: der romantische Nationalismus entstand überall – und somit auch in den slawischen Ländern – rund um das 18. und 19. Jahrhundert und ganz üblicherweise wurde er selten durch Kreise aus den imperialen, beherrschenden Zentren unterstützt. Deren Interesse daran hielt sich verständlicherweise in engen Grenzen. Das Aufkommen der tschechischen Nationalbewegung (bekannt als tschechische „Wiedergeburt“) wurde ja auch nicht von den Habsburgern in Wien gehätschelt. Im Gegenteil: die haben die tschechische Kultur jahrhundertelang unterdrückt. Über die Bedeutung der ukrainischen nationalen Erweckung und deren kulturelle Eigenständigkeit mögen die Historiker und Literaturwissenschaftler streiten. (vgl. Andreas Kappeler: Revisionismus und Drohungen)

Putin stellt die Sache jedenfalls recht einseitig dar. Die Ukraine ist für ihn eine erfundene Nation. Nun, auch das ist nicht sonderlich bemerkenswert. Faktisch jede Nation wurde irgendwann „erfunden“, und ihr allmähliches Entstehen stützt sich weniger auf zwingende Tatsachen als auf Erzählungen und Narrative, die sich nach und nach durchsetzten. Kurzum: Jede Nation ist erfunden. Der legendäre Politikwissenschaftler Benedict Anderson hat darüber ein kanonisches Buch geschrieben, seither kann daran niemand mehr zweifeln. (vgl. Benedict Anderson: Die Erfindung der Nation)

Auch Putin muss das zugestehen, wenn er schreibt, dass jeder Teil eines Volkes sich durch spezifische Umstände zu einer „eigenständigen Nation“ entwickeln und darüber ein „Bewusstsein“ erlangen könnte.

Die heutige Ukraine sei aber das „vollständige Produkt der sowjetischen Ära“, völlig klar sei, „das Russland beraubt“ wurde – territorial nämlich. All das sei kein Drama gewesen, solange die Sowjetunion bestand, und wäre auch keines, wenn die Ukraine und Russland ein freundliches Verhältnis bewahren würden (wie etwa Deutschland und Österreich heute, wie Putin ausdrücklich erwähnt).

Die gesamte Sowjetgeschichte nimmt sich plötzlich als ein Leiden Russlands aus – als hätte der Stalinismus primär den Russen Opfer abverlangt. Gerade gegenüber der Ukraine ist das absurd, ist diese ja beispielweise das Hauptopfer der „von der Sowjetführung herbeigeführten Hungersnot“ (Kappeler) gewesen, die mehr als drei Millionen Tote zur Folge hatte. Dieser „Holodomor“ wird allgemein in der Ukraine als vorsätzlich herbeigeführter Genozid beurteilt und ist ein wichtiges Element der ukrainischen Identität. Andere Interpretationen sehen den millionenfachen Tod einfach als ein Resultat der stalinistischen Industrialisierungspolitik und einer völlig entgleisten Kollektivierung der Landwirtschaft. Wie immer man das einschätzt – Putin erwähnt es nicht einmal, was angesichts der Bedeutung dieser Geschehnisse für das ukrainische Selbstverständnis schon reichlich bizarr ist.

Die Ukraine habe sich so entwickelt, dass deren Politik einen „ethnisch reinen ukrainischen Staat“ zu etablieren versuche, der „aggressiv gegenüber Russland“ sei, ein Geschehen, dass Putin so charakterisiert: „In seiner Konsequenz ist es dem Gebrauch von Massenvernichtungswaffen gegen uns ähnlich.“ In dieser Ukraine sei man nur dann „Patriot“, wenn man Russland „hasse“. Die ukrainische politische Kultur (aufgepäppelt vom Westen), von Nazis durchsetzt, sei in eine Gewaltspirale geraten. Das Ergebnis, schreibt Putin im Sommer vergangenen Jahres, seien jetzt schon 13.000 Tote im Donbass, „ein schrecklicher, irreparabler Verlust“.

Spätestens in diesen Passagen gleitet Putins historische Meistererzählung ins gänzlich Groteske ab. In seiner Darstellung hätte die nationalistische Gewaltpolitik der Ukraine einfach 13.000 Tote verursacht – das Zutun, um es freundlich zu formulieren, von russischen Militärs und der von ihnen aufgepäppelten Separatisten und Milizen bleibt unerwähnt. Dass mit Wolodimir Selenskij ein Kandidat die Präsidentschaftswahlen in einem Erdrutsch gewonnen hatte, der in einer primär russischsprachigen Stadt in einer jüdischen Familie aufgewachsen ist (dessen erste Sprache russisch ist und der zum Zeitpunkt seiner Wahlkampagne nicht einmal akzentfrei und umgangssprachlich ukrainisch sprechen konnte), der damit auch den Wunsch der Ukrainer nach irgendeiner gütlichen Regelung und Beendigung dieses Krieges repräsentierte – es wird einfach unter den Tisch gekehrt. Wenn es heute so etwas wie einen dominanten ukrainischen Patriotismus und auch Nationalismus gibt – so ist dessen Vater Wladimir Putin selbst. Der stetige Versuch, in die Ukraine hineinzuregieren, der köchelnde Krieg ab 2014, die brutale Invasion seit dem 24. Februar – Wladimir Putin produziert gleichsam selbst exakt das, was er beklagt.

Putin benützt die Geschichte als Waffe. Er ist nicht der Erste, der das tut. Die Historie ist ein Büchse der Pandora, die man besser geschlossen hält – auch das ist eine Lehre der Geschichte. Denn sehr leicht erweist sich diese Büchse der Pandora als ein Pulverfass, das sehr schnell in die Luft fliegen kann.


Robert Misik, 56, ist Journalist und Buchautor und seit 20 Jahren regelmäßiger Falter-Autor. Während der Wende-Jahre berichtete er immer wieder aus Russland, unter anderem vom letzten Parteitag der KPdSU. Demnächst erscheint im Suhrkamp-Verlag sein Buch: „Das große Beginnergefühl. Moderne, Zeitgeist, Revolution.“

Zuletzt erschienen:

Nr. 10 Aussichten auf den „nichtlinearen Krieg“ (27.04.2022)
Nr. 9 Putin „lebt in seiner eigenen Welt“ (26.04.2022)
Nr. 7 Der KGB-Mafia-Kapitalismus (21.04.2022)
Nr. 6 Der Mann, der unsere Gehirne hackt (19.04.2022)
Nr. 5 Putins schlimmster Alptraum (15.04.2022)
Nr. 4 „An seinen Eiern aufhängen“ (13.04.2022)
Nr. 3 Putins brauner Philosoph (11.04.2022)
Nr. 2 Der Rächer des beleidigten Russland (07.04.2022)
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