Putins brauner Philosoph

Putin Verstehen III. Ivan Iljin war ein Reaktionär, Bewunderer Hitlers und Mussolinis und Ideologe der „weißen“ Konterrevolutionäre. Für Putin ist er ein Prophet, und Iljins geistigen Nachkommen knüpfen rechtsextreme Netzwerke mit FPÖ und Co.


ROBERT MISIK

11.04.2022

Putins zentraler ideologischer Referenzpunkt: Iwan Alexandrowitsch Iljin | WikiCommons

Sigmund Freud, der große Erforscher der menschlichen Seele und des Unbewussten, der Erfinder der Psychoanalyse, hat die seltsamsten Gestalten angezogen. Die Introspektion, das Wüst-Undurchdringliche des Innenlebens, war ja für viele radikale Denker und Künstler eine unglaublich interessante Sache geworden, gerade in der Zeit des Fin de Siècle und den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Die Gäste, die zu dem Professor pilgerten, hatten oft eigene, exzentrische Spleens im Kopf.

So fährt der Dadaisten-Guru André Breton im Sommer 1921 nach Wien, um Freud kennenzulernen, reist aber wieder enttäuscht ab, weil der Doktor kein Interesse an seiner Ansicht gezeigt hat, das Unbewusste sei besser als der bewusste Zustand. Einige Jahre vorher, 1914, kam ein anderer Bewunderer bei Freud vorbei, der von einer nicht minder kauzigen Überlegung besessen war. Ivan Iljin, Philosoph aus Russland aristokratischer Herkunft, beschäftigte sich mit Hegel, fürchtete zugleich das Ideal des Individualismus, beobachtete erschrocken ein Überhandnehmen eines „Anything Goes“ und war der etwas überspannten Ansicht, Russland wäre von einer Ausbreitung der „sexuellen Perversion“ bedroht. Er las Freud und aus den Schriften des Professors nahm er die Ansicht mit, dass die Leistung der Zivilisation gerade etwas mit „Triebverzicht“, der Unterdrückung des animalischen Begehrens zu tun habe.

Dass die Unterdrückung von Individualität, Sexualität und Hedonismus der Königsweg zu einer guten Gesellschaft wäre – dieser Ansicht seines verschrobenen Verehrers wird der Professor wohl nicht gar viel abgewonnen haben. Quellen zufolge hat Iljin über sechs Wochen lang psychoanalytische Sitzungen bei Freud. Iljins Frau, Natalia Vokach, ist mit dabei oder sogar treibende Kraft. Die beiden werden Pioniere der psychoanalytischen Bewegung in Russland, gründen später eine freudianische Zweigvereinigung.

Der wunderliche Wien-Besucher ist heute, posthum, in Putins Russland eine große Nummer. 1954 im Schweizer Exil verstorben, war Iljin eigentlich lange vergessen, erst seit den 1990er Jahren wird er in Russland nach und nach wieder verlegt. Irgendwann kam er Vladimir Putin unter, der nach intellektuellen Begründungen seiner neuen Nationalidee suchte. Seither verschenkt Putin Iljins Bücher an seine engsten Mitstreiter, ebenso wie an seine Statthalter in den Provinzen, er propagiert Iljins Ideen, und zitiert ihn geradezu obsessiv bei nahezu allen seinen Ansprachen als Präsident (und in der kurzen Phase zwischen 2008 und 2012, in der Putin als Ministerpräsident amtierte und sich Dimitrij Medwedew als Staatspräsident hielt).

Iljin war ein verwegener Denker, zugleich ein entschlossener Gegner Lenins und der Kommunisten. Aber irgendwie war er auch ein Bolschewik – nur einer von Ultrarechts. Die Radikalität der Bolschewiki machte auch ihn zum Extremisten – aber eben von der Gegenseite, zum überzeugten Reaktionär. Iljin wurde als Ideologe der „Weißen Armeen“, also der konterrevolutionären, zaristischen Militärs wie die Generäle Denikin oder Wrangel angesehen, die gegen die Kommunisten kämpfen. Von der Tscheka, dem Vorläufer des KGB, wurde Iljin mehrfach verhaftet und dem Todesurteil ist er nur entkommen, weil sich Lenin selbst für ihn einsetzte, weil er vor Philosophen Respekt hatte. So musste Iljin nicht vor das Erschießungskommando, sondern durfte ins Exil, wo er eine wichtige Nummer unter der weißrussischen, zaristischen Emigration wurde. Iljin geht erst nach Deutschland, bis er sich 1938 auch mit den Nazis überwarf, worauf er in die idyllische Schweiz auswich. „Putins Philosoph eines russischen Faschismus“ nennt ihn der Historiker Timothy Snyder in der „New York Review of Books“.
Sznyders Essay in deutscher Übersetzung finden Sie hier.

Es wirkt auf dem ersten Blick geradezu absurd und verrückt: Da trommelt Putin in seinen Propagandareden andauernd, er kämpfe gegen „Nazis“ in der Ukraine und „Nazis“ im Westen – und dann verehrt er einen Philosophen, der seinerseits ein faschistischer Ideologe war? Ja, es ist auch auf dem zweiten Blick absurd, am dritten auch. Noch absurder ist nur, dass manche hiesige Linke Putin für einen bewundernswürdigen Antiimperialisten halten.

In seinen Schriften im Exil zwischen den zwanziger und den fünfziger Jahren beschwor Iljin mit schier zwanghaftem Fleiß die „Wiedergeburt“ Russlands, des „Vaterlandes“. Russland, das war für ihn „Gott, Vaterland und der nationale vozhod“, was soviel heißt wie Souverän, Zar, Anführer oder eben nur oberste Autorität. Das Staatsoberhaupt ist eben nicht bloß Person, sondern die Verkörperung der staatlichen Macht, der „Einzige“, der auch über den morschen Apparaten des Staates steht. Iljin hatte über das Recht gegrübelt, und kommt jetzt nach und nach zur Ansicht, dass im Zusammenspiel von Macht und Recht die oberste Macht nicht ans Recht gebunden ist. Genau die Rolle, in der sich auch Putin sieht (siehe Folge II dieser Serie).

Die Individuen schätzte Iljin nicht sehr, sie hielt er letztlich für dumm, jedenfalls nicht in der Lage für kollektives, rationales und planvolles Handeln. Demokratie und Entscheidungen durch Wahlen oder Abstimmungen lehnte er ab. Insbesondere für Russland, denn „Demokratie“, „Liberalität“ oder „Freiheit“ passten nicht zu Russland und seiner „eurasischen Identität“. Die Zentralmacht würde den Bürgern dienen, weshalb zunächst einmal die Bürger der Zentralmacht zu dienen hätten. Die Nation wird als organische Einheit imaginiert. Russland sei eine Zivilisation eigener Art, eine Mischung aus der christlich-byzantinischen Kultur und der mongolisch-asiatischen Lebensart. Die Geographie ist Russlands Schicksal. Der Mensch solle „für jene Dinge leben, für die er auch zu sterben bereit wäre“, war seine aristokratische Maxime. Und natürlich sei die russische Eigenart eng mit der christlichen Orthodoxie verbunden, ihren Lehren, ihren Riten, ihrer Tradition. Dieser eurasische Großraum von der polnisch-tschechischen Westgrenze bis in die Mongolei wird als die „russische Welt“ imaginiert, oder wie der heutige modische Begriff lautet: „Rusky Mir“. Siehe auch: A Fashionable Fascist

In den zwanziger und dreißiger Jahren bewunderte Iljin Hitler, Mussolini, den portugiesischen Machthaber Salazar und Spaniens Franco. Patriotismus, starker Staat, autoritäre Führung, Ehre, die Bereitschaft, sich im Dienste zu opfern, das Soldatische – alles findet sich in Iljins Schriften aus diesen Jahren. „Ein rettendes Übermaß an patriotischer Willkür“, attestiert Iljin der faschistischen Idee, die er trotz aller Exzesse für eine zeitgemäße Ideologie hält. Jahre später wird er zu Protokoll geben, der Faschismus sei ein komplexes Phänomen, habe seine gesunden und seine kranken Seiten, seine bewahrenden und seine zerstörerischen Elemente. Er bekundet aber auch: „Politik ist die Kunst, den Feind zu erkennen und auszuschalten“.

„Es sollte angemerkt werden, dass Iljins Ansichten, obzwar nationalistisch und patriotisch, nicht imperialistisch waren“, urteilt der Religionswissenschaftler Tsoncho Tsonchev. Es ginge Iljin um die Bewahrung des Imperiums, aber nicht um dessen Ausweitung oder eine Art von Weltherrschaft.

In den fünfziger Jahren denkt Iljin darüber nach, dass das kommunistische Russland kollabieren und daraufhin das gesamte Land zerfallen könnte, wenn einzelne Regionen im Westen und im Süden den Verlockungen des Westens erliegen. Vor allem auf die Ukraine hat Iljin einen regelrechten Hass: Während er einerseits Russlands einzigartige Bestimmung preist, zieht er über die Ukraine her, von der die größte Gefahr für Verrat und Separatismus ausginge und die nur aus Gründen von Ränken und Intrigen als eigenständiges Territorium existiere.

Deshalb wird er auch als prophetischer Denker gesehen, nicht nur von Putin. Denn genau das ist in den Augen der Moskauer Staatsführung ja auch geschehen. In den Schlüsseltexten dieser Jahre behauptet Iljin, „der imperialistische Westen werde das falsche Versprechen von Freiheit nutzen, um Russland Länder wegzunehmen: das Baltikum, den Kaukasus, Zentralasien und vor allem ‚die ‚Ukraine‘‘. Ein Land, das Iljin nur in Anführungszeichen nennt. Der Westen wolle eine Balkanisierung Russlands, um das Reich zu zerstören“ (Sascha Buchbinder | in: Die Zeit | „Er hat’s erfunden.“)

Putin hat einen regelrechten Kult um Iljin etabliert: die sterblichen Überreste des Denkers wurden exhumiert, nach Russland gebracht und in Heimaterde begraben. Putin machte später einen Pilgerzug zu Iljins Grab und legte Blumen nieder.

Eines ist an der Iljin-Verehrung auch interessant: Iljin war ein antikommunistischer, weißer Ideologe, aber er und weite Teile der von Lenin vertriebenen antikommunistischen Emigration blieben einerseits Regime-Gegner, aber andererseits Patrioten. Die UdSSR war zwar ein kommunistisches „Reich“, aber sie war immerhin ein „Reich“, und noch dazu eines von Weltrang. Viele aus der antikommunistischen Emigration hörten irgendwann auf, das Reich wirklich zu bekämpfen. Aber eine ähnliche Bewegung gab es auch von der anderen Seite. Die KGB-Leute und Sowjet-Emissäre in Europa und anderen Ecken der Welt waren einerseits Kommunisten, aber auch pragmatische und ruchlose Akteure und Agenten einer Weltmacht.

Was die Tschekisten und die Nachkommen der Weißen Emigration verband, war die russische imperiale Idee. Man tat sich zusammen, einige Nachkommen der aristokratischen Emigration arbeiteten schon während der KP-Zeit für den KGB, und das Netz, das da geknüpft wurde, diente ab den achtziger Jahren für geschäftliche Zwecke und hinterher für das Treiben des KGB-Mafia-Kapitalismus, mit dem Vermögen verschoben wurde und über informelle Kanäle in schwarze Kassen geleitet wurde.

Vladimir Putin selbst war als KGB-Statthalter in Dresden und später als Fixer in Sankt Petersburg ziemlich sicher Teil dieser Netzwerke – schließlich gehörte das zu seinen Aufgaben, nämlich Kanäle zu finden, über die man nötige Güter, Technologien oder Devisen beschaffen konnte. Serge de Pahlen, ein Abkömmling russischer Aristokraten und der „weißen“ Gegenrevolutionäre, wohnhaft in der Schweiz, verheiratet mit einer Agnelli-Erbin, ist seit Jahrzehnten mit Putin bekannt (wenn nicht befreundet), und strickt zugleich mit an den extrem rechten Netzwerken, die der Kreml im Westen etabliert.

Eine Vielzahl von Stiftungen mischt hier mit, in denen orthodox-religiöse, oder mehr imperial-faschistische, oder scheinbar staatstragend-realpolitische Denker und Geldleute den Ton angeben, die „Rusky-Mir-Foundation“ und viele andere.
Eine ausführliche Darstellung dieser Netzwerke findet sich hier.

Dieser Kreis um de Pahlen und Co. traf sich beispielsweise 2014 in Wien zu einer prachtvollen Konferenz im noblen Palais Lichtenstein mit Heinz-Christian Strache, Johann Gudenus und Johannes Hübner, der heute noch für die FPÖ im Bundesrat sitzt, Russlands langbärtiger Oberfaschist Alexander Dugin war auch zugegen (er wünscht sich einen „faschistischen Faschismus“ für Russland), ebenso Marion Maréchal-Le-Pen von den französischen Rechtsextremisten und andere rechtsextreme Parteiführer sowie der Oligarch Konstantin Malofeev, der im Auftrag des Kreml mit seinen Stiftungen und Organisationen die russische Ideologie im Westen verbreiten will – oder zumindest Zwietracht im Westen säen soll, damit der Gegner geschwächt wird. Malofeev wurde vergangene Woche in den USA wegen Sanktionsverstoß angeklagt. Gudenus und Hübner waren zuvor sogar zum Tschetschenen-Killer Ramsan Kadyrow gepilgert.

Ein ganzes Netz dieser Art ist entstanden, das mit seinen Agenturen im Westen Einfluss nehmen will: Mehr zu Putins rechtsaußen-Philosophie lesen Sie hier, mehr zu seinem Vertrauensmann in der Schweiz hier, Details zum Netz rechtsradikaler Stiftungen finden Sie hier.

Dass das Netzwerk der prorussischen Agenten und russophilen nützlichen Idioten einen herben Rückschlag erhalten würde, weil zwei seiner Proponenten einer vorgeblichen Oligarchennichte auf den Leim gingen und sich in der schwülen Atmosphäre Ibizas unter den Einfluss verschiedener Substanzen um Kopf um Kragen redeten, ist eine Skurrilität der Geschichte, die Ivan Iljin wohl weniger erheitert hätte. Schließlich ist der vor über 100 Jahren nach Wien gereist, um hier Heilung gegen die Versuchungen der „sexuellen Perversion“ zu suchen. Aber gegen Verlockungen („Bist du deppert, die ist schoaf“) ist man auch in der Heimatstadt von Sigmund Freud nicht immun.


Zuletzt erschienen:

Nr. 10 Aussichten auf den „nichtlinearen Krieg“ (27.04.2022)
Nr. 9 Putin „lebt in seiner eigenen Welt“ (26.04.2022)
Nr. 8 Die Geschichte als Waffe (23.04.2022)
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