ROBERT MISIK —
26.04.2022
Im August 1999 wird Wladimir Putin zum Premierminister ernannt, und ein rasanter Aufstieg beginnt. Vom No-Name wird er zum populärsten Politiker Russlands, übernimmt Ende des Jahres provisorisch die Präsidentschaft, wird kurz danach zum regulären Präsidenten gewählt. Dazwischen führt er einen brutalen Krieg in Tschetschenien und hatte auch sonst ein paar Sorgen. Am 2. August 1999 war sein Vater, Wladimir Spirodonowitsch Putin, nach längerer Krankheit verstorben.
Putin fährt zumindest einmal die Woche von Moskau nach Sankt Petersburg, um seinen schwer kranken Vater zu besuchen. „Mein Sohn ist wie ein Zar“, sagte der bei einem der letzten Besuche stolz. Vielleicht hat er etwas vorhergesehen, was damals nur wenige sehen konnten. Aber vielleicht ist es auch nur eine gut erfundene Geschichte. Oder ein belangloser Satz eines stolzen Vaters am Ende seines Lebens.
Wladimir Putin hat sich, wie wir in den bisherigen Blog-Folgen gesehen haben, über die Jahre immer mehr radikalisiert. Es begann damit, dass er sich als der präsentierte, der die Dinge „regelt“, der nach den Jahren der Wirren Ordnung schafft.
Er erklärte, dass die Russen einen starken Staat wünschen. Das Machtzentrum um Putin herum nahm das Land allmählich in einen harten Griff. Bald begann Putin sich auch rhetorisch gegen den Westen zu wenden, der eine monopolare Ordnung etabliert habe, Russland nicht mit Respekt behandele, ein ums andere Mal betrüge.
Innerhalb von wenigen Jahren wurde eine regelrechte neue Staatsphilosophie entwickelt, gebildet aus den Komponenten „starker Staat“ mit einem souveränen „Anführer“ an der Spitze, gewürzt mit der imperialen Idee („Russkyj Mir“), Vorstellungen von der russischen Eigenart, Konservativismus und ergänzt um Revanchegedanken einer Nation, die gekränkt worden wäre.
Jede Herausforderung – seien es Demokratiebewegungen in den „nahen“ Nachbarländern, Bürgerbewegungen in Russland selbst, regionale Konflikte – wurde wiederum zum Anlass für radikalisierte Reaktionen, vielleicht auch für Panikreaktionen.
Putin wurde auch älter, und bekundete schon mal, mit dem Alter werde man „konservativer“. Umgeben von Ja-Sagern und einer Männertruppe, die sich immer mehr in eine reaktionäre Weltsicht hinein schraubte, wurde Putin offenkundig auch immer isolierter und geriet in eine Feedback-Schleife, in der sich der reaktionäre Konservativismus immer mehr wechselseitig bestätigt. Es sieht stark danach aus, als wäre er nur mehr von Leuten umgeben, die sich gegenseitig hochschaukeln.
Man fühlte sich auch bedroht, entwickelte eine Paranoia. Postulate, die man zunächst vielleicht zynisch trommelte, weil sie einem als PR nützlich waren, glaubte man langsam selbst immer mehr. Ideologien und Propaganda verfällt man dann irgendwann auch selbst, man muss sie nur oft genug wiederholt. Wie genau diese Prozesse abliefen und bis heute ablaufen, wissen wir natürlich nicht genau. Wir können in Putins Kopf nicht hineinschauen, und die genauen zwischenmenschlichen Prozesse in seinem engsten Kreis sind unklar, da das Regime stark abgeschottet ist.
Zwar gibt es immer wieder Aussagen von Leuten, die ausgestiegen sind – aber nur von Leuten, die sich in den Westen absetzen konnten. Aussteiger, die in Russland überleben wollen, tun gut daran, die Klappe zu halten. Einer der hochrangigsten Aussteiger ist Andreij Illiarianow. Er war Putins engster Wirtschaftsberater, brachte Russland in die G-8-Gruppe, repräsentierte den Präsidenten im Kreis der globalen Wirtschaftslenker. Dann warf er hin, weil Russland „ein unfreier, kriegshetzerischer Staat wurde, der von einer Clique regiert wird“ (mehr dazu im Buch „Der Mann ohne Gesicht“ von Masha Gessen).
Putin hat sich, verstrickt in seine eigenen ideologischen Erzählungen, ganz offenbar verkalkuliert. Verkalkuliert, was die Widerstandsfähigkeit der Ukrainer anlangt; verkalkuliert, was die Fähigkeiten der russischen Armee anlangt; verkalkuliert, was die Entschlossenheit des Westens anlangt. Putin, so formulieren das einige Biografen, ist zwar durchaus ein Stratege, der für „kontingente“ Ereignisse plant. Der also nicht allein auf eine Karte setzt, sondern Sorge trägt, dass er ein Blatt mit mehreren Karten in der Hand hält, je nachdem, wie sich die Dinge entwickeln. Einer, der für verschiedene Szenarien vorplant. Aber einige Dinge hat er ganz offensichtlich nicht zu Ende gedacht.
Sicher ist, dass Putin sich immer rasanter radikalisierte. Zuletzt sagte er öffentlich: „Jedes Volk, und insbesondere das russische Volk, wird immer die wahren Patrioten von dem Abschaum und den Verrätern unterscheiden können, um diese einfach auszuspucken wie eine Mücke, die versehentlich in ihren Mund geflogen ist.“ Innere Kritiker, aufmüpfige Oligarchen, die paar tausenden mutigen Leute, die gegen seinen Krieg auf die Straße gehen, die letzten verbliebenen widerborstigen Publizisten – sie werden mit Insekten verglichen, die man ausspuckt und zerquetscht.
Das ist die reine Sprache der Faschismus und des Totalitarismus. In den berüchtigten Moskauer Prozessen der 1930er Jahre bezeichnete der Chefankläger Andreij Wyschinski die Beschuldigten als „tollwütige Hunde“, die erschossen gehörten. Es ist die Sprache einer radikalisierten Säuberungspolitik.
Dieser Prozess der Selbstradikalisierung ist seit längerer Zeit im Gange. So redete sich Putin bereits 2013 bei dem jährlichen Zusammentreffen mit internationalen Russlandspezialisten in eine antiwestliche Tirade hinein, in eine reaktionäre Schmährede gegen die Ordnung des Liberalismus, der Homosexualität bewerbe, die gleichgeschlechtliche Ehe gestattet und der nun ernsthaft darüber diskutiere „eine Partei zuzulassen, die sich für pädophile Propaganda einsetzt“ (Nachlese: „In Putins Kopf“, Michael Eltchaninoff).
Später erklärten Kreml-Sprecher, der Präsident habe diese Information von Freunden erhalten.
In der Ukraine, sagte Putin bei anderer Gelegenheit, entstünde ein „Anti-Russland“, das „vollständig von außen kontrolliert“ wäre. Wer einer Ideologie verfällt, der sieht nur mehr, was seine Annahmen stützt. Wer an der Spitze einer politischen Hierarchie steht, hat auch tatsächlich Gegner (potentielle Konkurrenten im Land, Widersacher in anderen Ländern), und neigt gewissermaßen schon von Berufs wegen dazu, die Welt in Freund und Feind einzuteilen und irgendwann beinahe überall Feinde zu sehen. Das ist sogar in Demokratien so, und erst recht in despotischen Autokratien und Mafia-Staaten, in denen du leicht eine Kugel in den Rücken bekommst, wenn du einen Augenblick unachtsam bist.
„Niemand weiß“, formuliert Michel Eltchaninoff, „ob Wladimir Putin den Verstand verloren hat.“ Aber es gibt schon verdammt viele Hinweise, „dass er in einer Parallelwelt vor sich hindämmert“.
Angela Merkel äußerte Berichten zufolge bereits 2014 gegenüber Barack Obama nach einem Gespräch mit Putin, letzterer „lebt in einer eigenen Welt“. Ob Merkel damit meinte, dass Putin entrückt sei und quasi den Kontakt zu Realität verloren habe? Das ist nicht so sicher. Es kann auch heißen: Putin lebt in seiner eigenen Welt, er sieht die Welt auf seine Art, anders als wir. Er sieht sie mit den Augen des Geheimdienstlers, der überall Verschwörungen wähnt, er sieht sich von Feinden umgeben und in den Sicherheitsinteressen seines Landes (und in seinen eigenen) bedroht, er sieht Russlands Politik als konsistent an, die des Westens als in sich unlogisch, was ja auch nicht falsch ist.
Kann also auch heißen: Er hat eine Rationalität, die anders ist als die unsere. Was auch heißt: Wir können seine gar nicht verstehen. Wir interpretieren seine Handlungen im Lichte unserer Rationalität. Und deswegen machen wir auch Fehler. Der KGB-Mann und Homo-Sowjeticus Putin ist einfach in einer anderen Realität groß geworden und belebt sie auch heute noch. (Zu dem Gespräch zwischen Obama und Merkel lesen Sie hier nach!)
Oft wird jetzt gefragt, „wie wir so blind sein konnten?“ Es lag ja alles offen zutage, die innere Verhärtung des Regimes, die imperiale Wende von Putin, seine ungeschönten Aussagen in Hinblick auf seine Ziele, die Erfahrungen mit seiner Bereitschaft zur Brutalität. Aber viele im Westen haben sie einfach im Lichte ihrer eigenen Rationalität interpretiert.
Etwa: Reden ist besser als schießen. Kooperation wird Spannungen verringern können. „Entspannungspolitik“ ist immer gut, und hat mit der Sowjetunion seit den sechziger Jahren eigentlich ganz passabel funktioniert. Ein rückständiges, zerfasertes Großreich wie Russland brauche auch eine starke Hand, sonst breche Chaos aus – auch dieses Element von Putins Staatsideologie waren viele bereit zu akzeptieren.
Viele dachten auch: Die überideologisierten Aussagen von Putin dürfe man auch nicht so ernst nehmen, das sei nur Gerede für die Galerie, also für das Publikum. Im Westen reden doch auch alle Politiker irgendwelche „Narrative“ daher, die ihnen Spindoctoren einsagen, die meinen, dies käme beim Wähler gut an. Ist doch alles Schauspielerei. Und außerdem: Welche guten Alternativen hätte man denn gehabt?
Hätte sich, beispielsweise, 2014 die Überzeugung flächendeckend durchgesetzt, dass Putin nicht mehr für vernünftige Politik zu gewinnen wäre, er für Verhandlungswege nicht mehr zu haben sei, er vielmehr auf die Errichtung einer halbfaschistischen, imperialen Despotie zusteuere – was hätte man denn dann tun sollen? Massiv aufrüsten, das westliche Militär an den Grenzen zu Russland zusammenziehen, schnell alle Nachbarstaaten in die Nato aufnehmen, einen Raketenabwehrschutzschirm gegen die atomare Bedrohung aus dem Boden stampfen, die wirtschaftliche Verflechtung mit Russland schnell rückgängig machen?
Besonders verlockend wäre das für Politikerinnen und Politiker nicht gewesen. Erstens hätten sie es in einem zerfaserten, zerstrittenen Westen sowieso nicht hingekriegt, zweitens waren sie mit anderem beschäftigt (Finanzkrise, Trump-Jahre, Brexit, Flüchtlingsbewegungen), drittens hätte das alles sehr viel Geld gekostet und die Bevölkerung hätte jeden abgewählt, der eine solche Aufrüstungspolitik vorgeschlagen hätte. Außerdem hatten wir uns an so etwas wie die Idee des „ewigen Friedens“ in der europäischen Politik gewöhnt. Somit war die bessere Alternative: Kopf in den Sand stecken und hoffen, dass es schon nicht so schlimm kommt. Sich selbst in den Sack lügen.
Guten Plan hatte niemand. Hinterher ist leicht zu sagen, dass es einen geben hätte müssen.
Putins Russland ist zwar schwach, Putin macht dafür aber im Verhältnis zum Westen sehr viel aus dieser Schwäche. Denn es gibt da ein Missverhältnis, das ihm zumindest bis heute eine ziemlich gute Hebelwirkung schenkt: Der Westen will keinen Konflikt mit Russland, Russland aber einen Konflikt mit dem Westen. Das verstärkt die Bereitschaft in Europa, aber auch in Washington, dem Bully nachzugeben.
(Mehr dazu in: Foreign Policy: The West is Sleepwalking Into War in Ukraine)
Es kommt aber auch noch eines hinzu.
Der Westen ist durchschaubar, die Machthaber im Kreml sind es nicht. Man weiß so ziemlich genau, was der Westen will. Man kennt dessen Checks-and-Balances, die inneren Kompliziertheiten jedes einzelnen Landes. Man weiß, dass kein westliches Land eine Ein-Personen-Herrschaft ist, dass also kein Verrückter eigenständig etwas Irrsinniges anrichten könnte (was nicht heißt, dass nicht verrückte Fehler begangen werden können, wie etwa der Irakkrieg vor 20 Jahren).
Man weiß auch, dass es unendlich schwierig ist, eine gemeinsame westliche Politik zustande zu kriegen, weil es dafür den Kompromiss von mindestens einem Dutzend Regierungen braucht, wenn nicht von mehr. An dieser Kompromissbildung sind tausende Beamte und Berater beteiligt, von denen viele plaudern. Nichts im Westen bleibt lange geheim.
Aber auf der anderen Seite weiß man das alles nicht so genau. Auch das ist ein strategischer Vorteil von Putin. Wir können ihm gar nicht glauben machen, dass wir ihm beispielsweise eine Atombombe auf den Kopf werfen, wenn er uns nur ordentlich nervt. Er kann das umgekehrt schon. Wir müssen vor Putins nuklearem Arsenal Angst haben. Aber das heißt zugleich auch: Er will, dass wir vor seinem nuklearen Arsenal Angst haben, weil das seinen Hebel verstärkt.
Was auch heißt: Unabhängig davon, ob Putin verrückt geworden ist oder nicht, er hat ein gewisses Interesse daran, dass wir es für möglich halten, dass er verrückt geworden ist und überdies eine Ein-Mann-Tyrannei errichtet hat, die ihm erlaubt, etwas völlig Verrücktes zu tun. Seine Rechnung ist ganz einfach: Solange wir Angst vor seinem nuklearen Potential haben, kann er machen, was er will.
Jedenfalls: Die labile Friedensarchitektur in Europa und deren Grundannahmen, an die man sich eigentlich nicht nur seit 1989, sondern schon seit der „Entspannungspolitik“ und des „Helsinki-Prozesses“ der siebziger Jahre gewöhnt hatte – all das liegt in Trümmern.
Und was wird jetzt an dessen Stelle treten? Was sind die Szenarien in all diesem unübersichtlichen Chaos und einer brandgefährlichen Bedrohungssituation, wie sie die Welt wohl seit der Kuba-Krise nicht mehr gesehen hat?
Zuletzt erschienen:
Nr. 10 Aussichten auf den „nichtlinearen Krieg“ (27.04.2022)Nr. 8 Die Geschichte als Waffe (23.04.2022)
Nr. 7 Der KGB-Mafia-Kapitalismus (21.04.2022)
Nr. 6 Der Mann, der unsere Gehirne hackt (19.04.2022)
Nr. 5 Putins schlimmster Alptraum (15.04.2022)
Nr. 4 „An seinen Eiern aufhängen“ (13.04.2022)
Nr. 3 Putins brauner Philosoph (11.04.2022)
Nr. 2 Der Rächer des beleidigten Russland (07.04.2022)
Nr. 1 „Ich war ein echter Schläger“ (06.04.2022)