Der KGB-Mafia-Kapitalismus

Putin verstehen VII. Geld ist Macht, das wusste Vladimir Putin. Deshalb hat er mit seiner KGB-Truppe dafür gesorgt, dass sie die Businesswelt kontrollieren.


ROBERT MISIK

21.04.2022

Der Ausblick von "Putins Palast" auf das Schwarze Meer. Die ganze Genese des Baus ist ein Musterbeispiel für die KGB-Mafia-Netzwerke rund um Putin. Foto: Russian Wikileaks, CC BY 3.0

Kathi Nehammer, Gattin des österreichischen Bundeskanzlers, ist ganz offenbar eine lebenslustige Frau, die ihr Umfeld schön auf Trab hält. Jüngst stand sie im Zentrum einer Posse um Personenschützer des Kanzlers, die einen eigentlich belanglosen Blechschaden beim Ausparken produzierten. Während die Welt mit Fragen von Krieg und Frieden beschäftigt ist, ist Österreich von einer Promille-Farce in den Bann gezogen. Vor einigen Jahren, Frau Nehammer war damals noch auf einem Kabinettsposten im Innenministerium, wackelte sie bei einem Bootsausflug mit Bürokollegen so stark, dass gleich zwei Boote kenterten, die Beteiligten ins Wasser fielen, und das Mobiltelefon von Kabinettchef Michael Kloibmüller durchweicht wurde. Wie heute weithin bekannt, geriet er beim Datenretten an den Falschen, weshalb Chats des seinerzeitigen Sobotka-Sekretärs kursieren. In einer dieser Nachrichten-Dialoge wird Kloibmüller gebeten, sich der Einbürgerung des Geschäftsmannes Grigory Luchanskys anzunehmen. „Wie heißt der Mann genau?“, fragt Kloibmüller zurück. Nach einigem hin und her repliziert Kloibmüller: „Okay.“

Wie die Sache ausging, ist bislang unbekannt. (Quelle)

Im hiesigen Russland-Geschäft ist Luchansky dafür seit Jahrzehnten kein No-Name, westliche Sicherheitskreise brachten ihn immer wieder mit Geschäften im Graubereich in Verbindung. Aber in Wien ist das ja auch keine besondere Nachricht Wert, hier laufen seit Jahrzehnten Netzwerkknoten zusammen, bei denen Handel, Finanzierung, aber auch Geldwäsche und KGB-Operationen nicht leicht zu unterscheiden sind.

Die ökonomische Struktur Russlands (und die Wirtschaftsgeschichte der vergangenen vierzig Jahre) ist von einem bestimmten Muster geprägt – auch Vladimir Putins Aufstieg, seine Rolle und sein Verständnis von Wirtschaft ist damit eng verbunden.

Eine umfassende Kriminalgeschichte dieser wirtschaftlichen Operationen kann hier unmöglich ausgebreitet werden – einerseits ist vieles viel zu undurchsichtig, andererseits würde die Darstellung unlesbar lang werden, und die – bekannten – Player in dem Netzwerk sind auch viel zu viele, sodass die Präsentation der Netzwerke aus tausenden Fäden und hunderten Namen bestehen und sich am Ende kein Leser / keine Leserin auskennen würde. Also konzentrieren wir uns primär auf das Prinzip, die strukturierende Logik, und wie sie sich über die Jahrzehnte veränderte – und versehen wir sie bloß mit einigen illustrierenden Exempel.

Der Ursprung: Der KGB und die Strukturen der Sowjetunion hatten viele geheime Fäden in den Westen, und dazu gehörten natürlich auch ökonomische Röhrensysteme, mit denen Geld verschoben werden konnte. Teilweise diente das der Finanzierung von Spionage, aber auch der politischen Einflussnahme, in gewissem Sinne gehen diese Strukturen noch auf die Tage der Komintern zurück, der Kommunistischen Internationale, die in den Zwanziger- und Dreißigerjahren die „Weltrevolution“ vorantreiben sollte – wozu eben auch die Unterstützung der kommunistischen Parteien in Westeuropa gehörte. Strukturen, Netzwerke und Personen, die als Brückenköpfe dienten, waren folglich schon länger vorhanden und gut etabliert.

Als ab den siebziger, achtziger Jahren klar wurde, dass die Sowjetunion ökonomisch gegenüber dem Westen immer mehr ins Hintertreffen geriet und mit den technologischen Innovationen nicht mithalten konnte, man zugleich aber durch ein Wirtschaftsembargo diese Technologien nicht einfach kaufen konnte (faktisch hatte der Westen strenge „Sanktionen“ verhängt, die nicht ganz unähnlich jenen der unsrigen Zeit waren), begann man diese Strukturen verstärkt für eine Sache zu nützen: Für den verdeckten Kauf solcher Technologien. Simpel gesagt ging es darum: Das, was man unbedingt benötigte, sollte irgendwie illegal beschafft und in die Sowjetunion geschmuggelt werden. Dafür benötigte man befreundete Unternehmer und Unternehmerinnen im Westen, die „Handelsgesellschaften“ aufzogen. Denen musste man einerseits westliche Devisen zukommen lassen. Und die mussten andererseits die Waren besorgen und irgendwie in den Osten bringen. Für diese Operationen konnte man allerlei Finanzierungstricks benützen, von Bartergeschäften über Provisionen für Rohstoffdeals bis hin zu normaler Geldverschiebung. So wurden Stasi- und KGB-Leute zu Geschäftsleuten, die Geheimdienste auch ein wenig zu Firmengeflechten. Die sowjetische Staatswirtschaft bediente sich damit privatwirtschaftlicher Geschäftsleute, die sie im Ausland platzierte. Häufig handelte es sich dabei um gewiefte Geschäftsleute aus dem Umfeld der westlichen kommunistischen Parteien, die auf diese Weise auch noch selbst reich wurden. Sie konnten sich mit der Aura des Agentenwesens umgeben, was zusätzlich eine gewisse abenteuerliche Ausstrahlung verlieh. Soll heißen: Die Protagnisten hatten auch etwas Faszinierendes, zumindest für Leute, die sich von solchen Schmalspur-James-Bond-Ausstrahlungen gerne faszinieren lassen.

Mit der politischen und ökonomischen Öffnung in der Sowjetunion im Zuge von Michail Gorbatschows Glasnost und Perestroika ergaben sich zusätzliche Möglichkeiten. Geschäftstüchtige Leute aus dem KPdSU-Biotop und energetische junge Leute konnten auch in der Sowjetunion (halb-)private Unternehmen gründen, und Waren am Weltmarkt verkaufen, über die das Land verfügte (Rohstoffe, oder einfach Schrott, der recyelt werden konnte), und dafür beispielsweise Computer einführen, aber genauso auch billigen Brandy. Damit kam man zu einigem Geld, aber wurde nicht gleich superreich. Für diese Operationen kooperierte man mit staatlichen Banken. Und irgendwann war es möglich, sogar selbst Banklizenzen zu bekommen.

„Es gab die bewusste Herstellung eines Schwarzmarktes“, zitiert Catherine Belton einen KGB-Mann. Über diesen Schwarzmarkt wurden Güter beschafft, an die man sonst nicht gekommen wäre, aber es entstand damit auch eine Mafia – also Geschäftsleute, die im Dunkeln operierten, die nur im halb-legalen Bereich tätig waren und sich, wie üblich in der Halbwelt des organisierten Verbrechens, Konkurrenzkämpfe um Reviere lieferten, die nicht nur mit Marktmechanismen ausgetragen wurden. Gelegentlich detonierte auch eine Bombe unter Autos und nicht wenige Protagonisten übten sich im unnatürlichen Frühableben. Funktionierendes Rechtssystem gab es sowieso keines. Und es war unmöglich, in diesem Metier „ohne KGB-Verbindungen“ (Belton) ein Bein auf den Boden zu bekommen – oder es lange am Boden zu behalten. Das Ergebnis war von Beginn an somit eine Art „Mafia-KGB-Kapitalismus“. (vgl. Catherine Belton: Putins Netz)

So kamen nicht nur Leute mit guten Verbindungen zur KPdSU im Westen zu einigem Reichtum, auch in der Sowjetunion selbst entstand eine Gruppe vermögender Leute, die die Gunst der ersten Stunde genutzt hatten. Zunächst waren sie, wie wir gesehen haben, Händler. Sie haben nicht produziert, sie hatten auch keine eigenen Finanzinstitutionen. Sie haben beschafft und verkauft. Und sie haben eingekauft und importiert. Danach bekamen sie Banklizenzen und damit einen größeren Hebel.

Das waren die Männer, die man später „Oligarchen“ nennen würde, Leute wie Michail Chodorkowski, Boris Beresowski, Mikhail Friedman, Pjotr Awen, Roman Abramowitsch, und auch kleinere Fische. Viele der Player auf diesem Feld waren übrigens Juden, Georgier, Tschetschenen, was auch damit zu tun hat, dass es Angehörige dieser ethnischen oder religiösen Gruppen in der KPdSU schwer hatten, Karriere zu machen. Der Rassismus sorgte für eine „gläserne Decke“. Wer superschlau, und auf mittelmäßigen Stellen unterfordert war, oder frustriert wurde, weil er im Apparat keine Chance hatte, wich auf das „Bizness“ aus.

Siehe zu Aufstieg und Fall Michail Chodorkowksi beispielsweise: „Als der Oligarch die Regel brach“

Während der Perestroika-Jahre ging es bei dieser planmäßigen Strukturierung eines Schwarzmarktes primär darum, Dinge ins Land hinein zu bekommen. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Kollaps jeder strukturierenden Ordnung hat sich das ein klein wenig verändert: Jetzt wurden die vorhandenen Strukturen zumindest von einigen Playern dafür genutzt, Vermögenswerte aus dem Land heraus zu bekommen. Wer künftig Macht haben will, der braucht Zugriff zu Vermögen – zu Finanzvermögen, zu Immobilien, zu was auch immer –, und deswegen konzentrierten sich vor allem die KGB-Leute darauf, Vermögen in schwarzen Kassen oder undurchsichtigen Finanzkapillaren auf der gesamten Welt zu verschieben, sie in Off-Shore-Konten zu parken, sie via Strohleute anzulegen usw. Vor allem das Vermögen der KPdSU wollte man ja nicht so einfach aus der Hand geben – wenn man damit künftig noch etwas Nützliches machen konnte. Während überall die Ordnung kopflos zusammen brach, scheint der KGB recht planvoll vorgegangen zu sein. KGB-Chef Vladimir Kryuchkov hat sich Berichten zufolge von Gorbatschow die Bewilligung geholt, so viel wie möglich vom KPdSU-Vermögen ins Ausland zu bringen. Manche Untersuchungen sprechen von bis zu 50 Milliarden Dollar an Vermögenswerten, die so verschoben worden waren. Wie realistisch diese Summe ist, ist schwer zu sagen – denn wirklich auf die Spur kam man den Assets später nicht mehr.

Im Chaos der Jelzin-Jahre geschah dann Folgendes: Für die russische Industrie und Staatswirtschaft – zunächst primär für Industrieanlagen – wurden Privatisierungspläne entwickelt. Ein Gutschein-System wurde geschaffen, bei dem alle Russen einen Anteil am Volksvermögen erhielten, also einen Voucher, einen Beteiligungsschein. Nun konnte aber ein durchschnittlicher Arbeiter, eine durchschnittliche Arbeiterin mit ihren Anteilen (stellen wir uns diese als eine einzige Aktie vor) recht wenig anfangen. Mehr noch: Die Produktion lag brach, die Menschen hatten höchstens ein bescheidenes Einkommen, die Inflation hatte ihre Ersparnisse aufgefressen. Die Leute haben ihre Vochers verkauft. Sie waren, da viele gleichzeitig verkauften, auch nichts wert. Für einen Spottpreis konnten die Geschäftsmänner, die zuvor schon zu Vermögen gekommen waren, diese Anteilscheine aufkaufen. Der zweite Privatisierungsschritt folgte, als die Regierung unbedingt Geld brauchte, weil der Staat praktisch bankrott war: Man nahm bei den Oligarchen – respektive bei deren Banken – Kredite auf und besicherte sie mit Aktien staatlicher Unternehmen („Loan-for-Share“-Programm). Diesmal gingen auch die Ölfelder, die Gasproduktion, die Bergbauindustrie über den Tresen. Wie zu erwarten, konnte der Staat die Kredite nicht zurückzahlen. So geriet in zwei Schritten praktisch das gesamte russische staatliche Vermögen in die Hände schwerreicher Oligarchen, die innerhalb weniger Jahre zu Multimilliardären wurden.

Natürlich gingen auch die Staatsfunktionäre bei all dem nicht leer aus: Um einen Marktzugang zu erhalten, benötigte man das Goodwill der Politiker, von Präsidenten, Gouverneuren, Bürgermeistern, Beamten. Um den Zugang zu bewahren und nicht gegen einen anderen Mafia-Kapitalisten zu verlieren, benötigte man den Schutz der Funktionäre. All das war in der Regel nicht gratis zu erhalten. Es ermöglichte den Politikern, selbst zu sehr viel Geld zu kommen. Sie brauchten es auch, nicht nur für ihren privaten Wohlstand. Denn um Politiker zu bleiben – also Wahlen gewinnen, Unterstützer kaufen, Klientel bedienen zu können – war ebenfalls sehr viel Geld nötig. Praktisch jeder hatte Dreck am Stecken. Praktisch jeder – ob Geschäftsmann oder Politiker – hatte irgendwo illegale Praktiken angewendet oder auch nur gegen Gesetze verstoßen, die sich sowieso widersprachen. Das hieß auch: Jeder war erpressbar. Das Stabilste, was in einer solchen Situation zu etablieren ist, ist eine Art „Gleichgewicht des Schreckens“ – wenn jeder erpressbar ist, hat auch jeder etwas gegen andere in der Hand, was ihn wiederum vor der Erpressung schützt. Zumindest theoretisch.

Es ist eine Welt aus dubiosen Geschäften und KGB, deren Protagonisten berufsbedingt lernen, so wenige Spuren wie möglich zu hinterlassen und Verbindungen zu knüpfen, die nicht leicht erkennbar sind. Es ist diese Welt, in der Putin seine Karriere macht. Als KGB-Offizier ist er in Dresden stationiert, und was er so genau da trieb, ist unklar. Er wird wohl an der Beschaffung von Technologien mitgewirkt haben, er wird ökonomisch nützliche Verbindungen geknüpft haben, er wird an der Rekrutierung von Agenten oder nützlicher Informanten gearbeitet und womöglich auch jenseits der DDR-Grenzen agiert haben. Es gibt hier keine gesicherten Hinweise, nur Indizien und Klatsch, der sich selten belegen lässt. Faktum ist, dass Putin – zurück in Russland – seine Expertisen in Wirtschaftsrecht einsetzt und vervollständigt, die er während seines Jura-Studiums erworben hat. Faktum ist weiters, dass er in Sankt Petersburg als stellvertretender Bürgermeister für die Auslandswirtschaftsgeschäfte zuständig ist, und die Genehmigung für die Gründung von Unternehmen und für große Bartergeschäfte über seinen Schreibtisch ging. Es ist sein Job, seine Verbindungen zu nützen bzw. neue zu knüpfen. Eines dieser „Tausch“-Geschäfte – bei dem Rohstoffe von Händlern in den Westen verkauft werden, dafür Lebensmittel für das notleidende Sankt Petersburg beschafft werden hätten sollen –, endet in einem Skandal, der Putin beinahe den Job kostet. Die Lebensmittel kamen nie an, dafür verschwanden die Mittel in dunklen Kanälen. Nachdenklich macht, dass Leute, die über Putins Verstrickung in diese Affäre Bescheid wussten, später oft „überraschend“ verstarben – oder in Spitzenpositionen seiner Präsidentschaft rückten. Faktum ist ebenfalls, dass in Sankt Petersburg das organisierte Verbrechen den Hafen kontrollierte und sich mit dem KGB zusammentat, und dass der damalige Chef des Hafens – ein enger Vertrauter Putins – später zum Big Boss der gesamten russischen Gas-Industrie aufsteigen sollte. Faktum ist zudem, dass KGB- und Stasi-Leute und dubiose Figuren aus dem Westen, die mindestens seit damals enge Kontakte mit Putin hatten, bis heute zu Putins Vertrauten zählen. Es liegt nahe, anzunehmen, dass er einzelne vielleicht schon vorher kannte. Es sind viele Namen, aber einige tauchen immer wieder auf.

Da ist etwa Matthias Warnig, von dem Fiona Hill und Clifford Gaddy berichten, seine „Verbindung zu Putin reicht mindestens bis in die Sankt Petersburger Zeit zurück“. Warnig ist ein ehemaliger Hauptmann der Hauptabteilung Aufklärung des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR – und 1990 wechselte er dann zur „Dresdner Bank“. Warnig vertrat die Bank in Sankt Petersburg. Im Staatskapitalismus, den Putin als Präsident etablierte, hatte Warnig diverseste Funktionen. Zuletzt war er Geschäftsführer der Nord Stream 2 AG, also jenes Gas-Pipelineprojektes, das nach der Invasion der Ukraine als eine der ersten Sanktionsmaßnahmen gestoppt wurde.
(vgl. Hill/Gaddy: Mr. Putin. Operative in the Kremlin)

Auch ein anderer Mann aus dem MfS-Universum taucht immer wieder im Firmengeflecht des Staatskapitalismus auf – Franz Wolf, der Sohn des ehemaligen DDR-Spionagechefs Markus Wolf. Wie eng die Kontakte dieser Protagonisten zu Putin direkt sind, ist unklar. Die aus dem Westen stammenden oder im Westen operierenden Geschäftsleute, die immer wieder in dem russischen Staatskapitalismus-Netzwerk hochpoppen, ist sowieso Legion. Immer wieder begegnet einem der Wiener Geschäftsmann Martin Schlaff, selbstverständlich auch der Unternehmer Sigi Wolf, der aus den Schlagzeilen kaum mehr wegzudenken ist, Putin für seine Entscheidungskraft bewundert und die Ansicht bekundete, „ein bissl mehr russische Demokratur“ würde er sich auch für uns wünschen. (Quelle)

Andreij Akimow etwa stand in den neunziger Jahren an der Spitze einer in Wien ansässigen Finanzierungsgesellschaft, heute ist er an der Spitze der Gazprombank. Glaubt man Belton, dann gehört auch der Schweizer Banker Jean Goutchkoff seit Jahren zu diesen Kreisen – ein Enkel eines Aristokraten und Fürsprecher der gegen „die Roten“ kämpfenden Weißen Armeen, genauso wie dessen Freund Graf Serge de Pahlen, der nach eigenen Auskünften mit Putin seit über dreißig Jahren befreundet ist. Faktum ist ebenfalls, dass wesentliche Knotenpunkte des Putin-Netzwerks, und vor allem des Gas- und Ölgeschäftes, in Deutschland und in Österreich (hier vor allem in Wien) liegen und über viele Verschachtelungen mit Steueroasen verbunden sind, und mit Ländern, wo die Regierungen nicht so genau hinsehen – etwa mit Zypern. Es ist ein verwirrendes Netz von „Briefkastenfirmen, die nicht einmal einen Briefkasten haben“ (Stern). (vgl. „Stern“: „Die Gazoviki, das Geld und die Gier“)

Firtasch, Deripaska, Nordex, Centrex, es ist eine Vielzahl an Oligarchen- und Firmennamen, die mit schöner Regelmäßigkeit den Weg kreuzen, wenn man sich mit dieser Welt zu beschäftigen beginnt. Manche Unternehmen schaffen es in Geheimdienstberichte – und zwar in die wenig schmeichelhafte Abteilung „Relations between organized crime groups and security services“. Es versteht sich, dass die Beteiligten diese Verhalte von sich weisen. (vgl. Analysebericht des Schweizer Nachrichtendienstes)

Die Netzwerke sind stabil, haben aber über die Jahre ihren Charakter geändert. Im wilden Kapitalismus der neunziger Jahre war der Staat schwach und die Oligarchen krallten sich, was sie bekommen konnten und entwickelten gegenüber der politischen Macht ein Eigenleben. Putin dagegen nahm die Oligarchen an die Kandare und hat wesentliche Teile der Rohstoffproduktion – Öl, Gas, seltene Metalle – entweder verstaatlicht, oder jenen Oligarchen zugeschanzt, die bereit waren als Art Lizenznehmer ohne totale Verfügungsgewalt zu agieren. Es sind andere, die jetzt stehlen, und es funktioniert auf andere Weise – aber es bleibt eine Kleptokratie, in der sich jeder bedienen kann und die Vermögenswerte in schwarzen Netzwerken versickern. Natürlich kann man auch in Russland Putins noch als privater Geschäftsmann tätig sein – aber dann muss man seinen Tribut leisten oder Putins persönliche oder politische Wünsche finanzieren.

Ein schönes Beispiel dafür ist etwa Jewgenij Wiktorowitsch Prigoschin, der natürlich wie Putin aus Sankt Petersburg stammt. „Noch zu Sowjetzeiten sitzt er wegen Raubs, Betrugs und Prostitution Minderjähriger einige Jahre im Gefängnis, kommt aber 1990 wieder frei, gerade rechtzeitig, um die Chancen der Perestroika zu ergreifen. Er beginnt, Hot-Dogs zu verkaufen und eröffnet gemeinsam mit einem Schulkameraden eine Supermarktkette“ (Deutschlandfunk). Später gründet er Restaurants, in denen auch Putin verkehrt, und ergattert so Aufträge, mit denen sich ein größeres Rad drehen lässt – etwa zur Verpflegung öffentlicher Institutionen, Betreibung von Kantinen, Verköstigung der Armee. „Putins Koch“, wie er genannt wird, wird richtig reich. (vgl. „Der Mann, der ‚Putins Koch‘ genannt wird“)

Er ist es, der formal die Troll-Fabriken betreibt, mit denen der Kreml den Westen mit seiner Propaganda beschießt und auch im Land selbst die Desinformations- und Verwirrungskampagnen unterfüttert. Putin kann dann in Interviews – wie etwa im berühmten ORF-Gespräch mit Armin Wolf – mit Unschuldsmiene erwidern, es sei nicht seine Angelegenheit, welche Aktivitäten private Unternehmer im Internet entfalten.

Man kann sagen: Putin hat ein System errichtet, das spiegelbildlich die schlimmsten Fehlentwicklungen des Westens kopiert, aber eben wie ein Fotonegativ. Wenn im Westen superreiche Oligarchen so viel ökonomische Macht an sich reißen, dass sie sich Regierungen halten, so ist es in Putins Russland umgekehrt. Hier hält sich die autokratische politische Macht Oligarchen, die nach ihrer Pfeife tanzen müssen. In beiden Fällen regiert das Geld. Putin bezeichnete sich immer als „pro-kapitalistisch“, er hat aber durch seine gesamte Sozialisation und auch durch seine berufliche Erfahrung eine bestimmte Vorstellung vom Kapitalismus. Zunächst, dass es in der „Wirtschaft“ um „Verbindungen“ geht. Es ist die Denkweise des „Händler“-Kapitalismus, der keine speziellen Kompetenzen haben muss, außer jener, wie man ein Produkt beschafft und wie man es mit einer Marge weiterverkaufen kann. Zweitens: Er war nie ein Experte für die Wirtschaft, sondern dafür, wie man die Wirtschaft kontrolliert. Dafür war er in Sankt Petersburg zuständig, dafür war er in seinen ersten Monaten im Kreml zuständig. Er hat das in den 2000er Jahren perfektioniert, indem er die Kontrolle über die Oligarchen und über die einträglichsten Geschäftsfelder zurückeroberte – über die Gas-, Öl- und Rohstoffproduktion. Eine moderne industrielle Basis oder technologisch avancierte Produktion und Dienstleistung – das hat Putin nie entwickelt, mit dieser Welt kam er nicht einmal erkennbar in sonderlich enge Verbindung. In den Nuller-Jahren war das für den ökonomischen Erfolg seiner Strategie auch nicht nötig: Die Rohstoffpreise stiegen rasant, der Rohölpreis, beispielsweise, hat sich zeitweise verachtfacht, ähnliches gilt für die seltenen Rohstoffe, über die Russland verfügt. Das spülte nicht nur Geld in die Staatskassen, sondern unterstützte einen Wirtschaftsaufschwung, der bei vielen Russen als merkbarer Wohlstandgewinn ankam. Moskau beginnt zu leuchten und wird zur irren Metropole. „Nie zuvor war so viel Geld in so kurzer Zeit in einen so kleinen Raum geflossen“, schreibt Peter Pomerantsev, der in diesen Jahren als TV-Produzent mitten in dieser Welt aus Dekadenz, schnellem Geld und Autokratie arbeitet. (vgl. Peter Pomerantsev: „Nichts ist wahr und alles ist möglich. Abenteuer in Putins Russland.“)

Doch seit gut zehn Jahren ist es mit dem Putinschen Wirtschaftswunder zu Ende. Die Rohstoffpreise kollabierten nach der Finanzkrise 2008 und stiegen danach einfach nicht mehr steil weiter und spülten nicht mehr zusätzliches Geld in die Kassen, ohne dass man viel dafür tun musste. Die Sanktionen nach der Annexion der Krim waren deutlich schmerzhafter als das Regime zugibt. Der Wohlstand im Land verfällt. Parallel dazu hat sich Putins Politik radikalisiert. Wer immer Vladimir Putin für einen meisterhaften Strategen hält, möge seine Aufmerksamkeit einen Moment lang auf folgende Tatsache richten: Konnte Russland vor einer Dekade noch auf einen Platz unter den Top-5 Volkswirtschaften hoffen, so ist das Land heute im BIP-Ranking auf Platz 11 zurückgefallen.

Die Wirtschaftsleistung des Landes, das ein Sechstel der Landmasse des Globus umfasst und sich über neun Zeitzonen verteilt, liegt gerade einmal bei dem Vierfachen von Österreich.


Robert Misik, 56, ist Journalist und Buchautor und seit 20 Jahren regelmäßiger Falter-Autor. Während der Wende-Jahre berichtete er immer wieder aus Russland, unter anderem vom letzten Parteitag der KPdSU. Demnächst erscheint im Suhrkamp-Verlag sein Buch: „Das große Beginnergefühl. Moderne, Zeitgeist, Revolution.“

Zuletzt erschienen:

Nr. 10 Aussichten auf den „nichtlinearen Krieg“ (27.04.2022)
Nr. 9 Putin „lebt in seiner eigenen Welt“ (26.04.2022)
Nr. 8 Die Geschichte als Waffe (23.04.2022)
Nr. 6 Der Mann, der unsere Gehirne hackt (19.04.2022)
Nr. 5 Putins schlimmster Alptraum (15.04.2022)
Nr. 4 „An seinen Eiern aufhängen“ (13.04.2022)
Nr. 3 Putins brauner Philosoph (11.04.2022)
Nr. 2 Der Rächer des beleidigten Russland (07.04.2022)
Nr. 1 „Ich war ein echter Schläger“ (06.04.2022)