„An seinen Eiern aufhängen“

Putin verstehen IV: Der Kreml-Chef kultiviert sein Image als „Outsider“. Dazu gehört auch sein Hang zu vulgärer Sprache und eine Rhetorik der Gewalt, aber auch Ungeselligkeit und Verschlossenheit.


ROBERT MISIK

13.04.2022

Vladimir Putin in Tuva | FOTO: WIKIMEDIA COMMONS / KREMLIN.RU / CC BY 3.0

In Wien gilt Oleg Deripaska als gut vernetzter Oligarch, als steinreicher Milliardär, der hier seine Verbindungen pflegt, in seinen Luxusimmobilien Hof hält und als Statthalter des Putin-Imperiums. Ohne Putin wäre er nichts, und doch muss er sich vom obersten Paten auch harte Worte gefallen lassen. Putin hat Deripaska öffentlich eine „Kakerlake“ genannt, als der über längere Zeit in einem seiner Fabrikskonglomerate in Sibirien einem Streik nicht Herr wurde. Putin reiste mediengerecht an, stellte sich auf die Seite der Arbeiter und wusch der Kakerlake ordentlich den Kopf.

Deripaska wird sich darob keine grauen Haare wachsen gelassen haben, denn Putin ist für seine derbe Gossensprache bekannt. Er setzt sie zielgerichtet ein, um zu schockieren. Erst unlängst sagte Putin in Hinblick auf die Ukraine, da auf die – noch bevorstehende – Eskalation angesprochen: „Du magst es, oder du magst es nicht, egal, du wirst es ertragen müssen, meine Schöne“. Es ist die Paraphrase einer Textzeile populärer russische Punkrocker. Ins Deutsche übertragen lässt sich der Satz am ehesten mit: „Wenn Du es nicht verhindern kannst, dann genieße es am besten, meine Schöne“ – also einer dieser Gewalt-Macho-Sprüche rüder Schlägertypen, die glauben, Vergewaltigungswitzchen wären lustig.

„Khamstvo“, nennt man diesen Slang im Russischen, was so viel heißt wie brutal, rüde, dreckig, herabwürdigend. Putins Gebrauch dieser Sprache ist „nahezu immer absichtlich und strategisch“, schreibt Leon Aron, ein Kenner der Putin-Rhetorik.

Im Artikel „What’s Behind Putin’s Dirty, Vielent Speeches“ aus dem Atlantic, lesen Sie mehr über Putins Sprache.

Dass Putin sagte, das Militär werde die Tschetschenen „in ihrem Scheißhaus ausräuchern“, haben wir schon im Folge I kurz erwähnt. Später meinte er auch auf die „islamischen“ Separatisten gemünzt, sie können von ihm die kulturelle Tradition der Beschneidung gerne haben, er werde sie so vornehmen lassen, „dass nichts mehr nachwächst“.

Über den georgischen Präsidenten Michail Saakaschwili sagte Putin, er werde ihn „an den Eiern aufhängen“. Terroristen müsse man „in ihren Löchern wie Ratten vernichten“, empfahl er bei einem Besuch der Zentrale des Geheimdienstes FSB. Und bei kritischen Jugendlichen, die gegen die Obrigkeit aufbegehren, empfahl er schon mal, ihnen „mit dem Knüppel eins überzuziehen“.

Die derbe, gewaltstrotzende Gossensprache hat Konsequenzen. Sie führt zu Verrohung, entmenscht den Gegner, öffnet die Schleußen zu Verbrechen, wenn sich Untergebene als berechtigt sehen, das dann in die Realität umzusetzen. Aber Putins Sprache ist auch eine Weise der Kommunikation mit den Russen. Er will sich als „harter Hund“ darstellen, mit dem man sich besser nicht anlegt. Aber auch als „einer von Euch“, als einer, der so spricht, wie die normalen Männer, wenn sie unter sich sind, der schon mal Sager loslässt wie ein Straßenschläger, der sich nicht an die Regeln seiner Branche hält. Ein „Normaler“, kein „Politiker“.

„Die Botschaft einer Vielzahl von Putins TV-Inszenierungen und vieler öffentlichen Wortmeldungen im ganzen Land war stets: ‚Ich bin wie ihr. Ich bin nicht wie diese privilegierten Typen in Moskau“, schreiben Fiona Hill und Clifford Gaddy. Putin hat ein Outsider-Image kultiviert, aber es ist auch Teil seiner Persönlichkeit, eine Charaktereigenschaft und ist mit seinem politischen Aufstieg eng verbunden.

Sowohl in der Schule als auch in der Universität – so beschreibt es jedenfalls ein Jugendfreund – war Putin „irgendwie Teil der Gruppe, aber auch ein wenig außerhalb“, als habe er einerseits dazugehört, und andererseits das Geschehen von außen betrachtet, distanziert, nicht-involviert.

Das politische Zentrum Russlands ist Moskau. Hier sind seit jeher die großen staatlichen Machtinstitutionen, der Kreml, das Parlament, die größten Medien, hier liefen immer schon die Fäden zusammen. Das war in Sowjetzeiten so, das war in den neunziger Jahren so. Moskau ist die Schaltzentrale, aber zugleich auch eine Kulisse von Wichtigkeit, wo sich die Intriganten, Beamten und Spitzenpolitiker bekämpfen, und glauben, das wäre „Regieren“.

Dabei sind sie von außen betrachtet auch irgendwie Clowns, in einem Hader und Gezeter verbunden, mit denen das normale Leben nichts zu tun hat. „Russland ist groß und der Zar ist weit“, lautet ein altes russisches Sprichwort. Soll heißen: In der Weite des Landes kann man machen was man will, und auf die Zentrale blickt man auch mit etwas Missachtung.

Für Putins Selbstverständnis ist es nach vielem, was wir wissen, entscheidend, dass er aus Sankt Petersburg stammt. Er ist hier aufgewachsen, damals hieß die Stadt noch Leningrad. Er hat hier die ersten Schritte seiner politischen Karriere gemacht. Er hat sich hier mit Leuten umgeben, zu denen er Vertrauen gewann. Es war eine Gruppe von „Provinzlern“, die gerne über die Machtzentrale die Nase rümpften.

Es ist aber eine lange Eigenart der russischen Politik und Gesellschaft, dass Petersburg natürlich eine Provinz ganz eigener Art ist. Einerseits weit entfernt vom Machtzentrum – andererseits selbst eine prächtige Millionenmetropole mit großer Geschichte. Sankt Petersburg wurde gewissermaßen als die moderne Gegenhauptstadt gegründet, schon seinerzeit, unter Peter dem Großen, der die Stadt im Finnischen Meerbusen aus dem Sumpfgebiet stampfen ließen.

Die Stadt liegt im Westen, offen und exponiert, am Meer, nicht – wie Moskau – tief im russischen Hinterland. Von 1712 bis 1918 war Petersburg selbst die Hauptstadt des Reiches. Petersburg hat nicht ein Verhältnis wie, sagen wir, Salzburg zu Wien. Eher wie Berlin zu Bonn in den neunziger Jahren, oder wie New York zu Washington.

Die Vergleiche hinken alle ein wenig. Aber Petersburg empfindet sich mindestens als gleichwertig, die Nachrangigkeit als narzisstische Kränkung. Jedenfalls: Es ist kompliziert. Wer aus Petersburg stammt, fühlt sich am Moskauer Parkett als Outsider. Hat aber zugleich eher ein Überlegenheitsgefühl als Minderheitskomplexe, man könnte sagen, ist Provinzler mit Metropolenbewusstsein.

Hier hat Putin seine KGB-Laufbahn begonnen, hier hat er sich mit seinen Kumpels umgeben, hier ist er in die Politik eingestiegen, hier hat er seine Kollegen kennen gelernt und seine Mitarbeiter gewonnen. Und von hier übersiedelte er dann in die Kreml-Verwaltung, wo er seinen Aufstieg machte.

Die Truppe hat sich auch im Moskau als Gruppe von Außenseitern gesehen. Selbst als sie selbst schon den Kern der Macht stellten, betrachteten sie sich eben als Jenseits der traditionellen Machtkanäle. Es ist extrem auffällig, dass die überwiegende Mehrheit der Vertrauten Putins aus dem Sankt Petersburger Stall kam und mit ihm gemeinsam Moskau gewissermaßen „übernahm“.

Nikolai Patruschew, der rasputinhafte Chef des Nationalen Sicherheitsrates – ein Weggefährte aus Petersburger Tagen. Die beiden kennen sich seit den siebziger Jahren. In Petersburg war er quasi Sicherheitsminister.

Igor Setschin, der es bis zum stellvertretenden Chef der Präsidialverwaltung brachte und heute der oberste Boss des Rosneft-Imperiums ist – Petersburger.

Dimitri Medwedew, der interimistisch sogar das Amt des Präsidenten übernahm, als Putin auf den Premierministerposten wechselte – ein enger Kollege aus den Zeiten der Petersburger Kommunalverwaltung.

Sergeij Naryschkin – ein Putin-Kumpel, der auch schon für Sobtschak in Petersburg arbeitete. Wladimir Jakunin, in den neunziger Geschäftsmann, dann wieder im Staatsdienst zurück, in Petersburg quasi Nachbar von Putin in der Datscha-Kommune, die sich die Seilschaft in den Wäldern nahe Finnlands errichtete, ihn hievte Putin an die Spitze der russischen Staatsbahn, einen Posten, den er 2015 räumte. Jakunin gehört zu den „orthodoxen Taliban“, also dem rechtsextremen Netzwerker-Kreis vom Malofeev, Dugin und anderen. Gazprom-Chef Alexi Miller – natürlich auch aus der Petersburger Geschäfts- und Dunkelwelt.

Und ein großer Teil dieser Leute kommt aus den Sicherheitsapparaten. Die Geheimdienstleute betrachten sich im politischen System auch als Outsider. Während „Politiker“ schwafeln, sind sie leise und handeln. Während andere Ideale haben oder an den Meinungskampf glauben, halten sie alles, was geschieht, für eine Folge von Manipulation und Fäden der Macht, die irgendwer knüpft. Sie ticken quasi anders als „normale“ Politiker.

Geheimdienstler sehen selten wo die labilen Balancen des normalen Lebens, die Kraftfelder und Zufälle ungesteuerter politischer Prozesse – und immer irgendwelche Verschwörungen und Machtintrigen. Und sich selbst wähnen sie gerne von Feinden umzingelt. Sie sehen die Welt gewissermaßen durch das Prisma ihrer eigenen Branche und die Déformation professionelle ihrer Berufsgruppe.

Wie von einem starken Faden gezogen sauste Putin die Karriereleiter hinauf, war nicht nur Teil des Establishments, er wurde vom Establishment gemacht – nämlich der Jelzinschen Präsidialkamarilla –, aber er konnte wegen dieser Hintergründe den Outsider geben. Putin ist ein Außenseiter, aber er hat die Figur des Außenseiters auch „kultiviert“ (Hill/Gaddy).

Es versucht die Rolle dessen einzunehmen, der trotz 22 Jahren an der Macht irgendwie jenseits des Systems steht – und es entschlossen repariert, wenn etwas schief läuft. Dieses öffentliche Bild des „Nicht-Politiker“ pflegt er „konstant durch eine populistische Sprache und durch rüde populär-kulturelle Reverenzen“ (Hill/Gaddy).

In dieser Selbststilisierung hat Putin mehr mit Donald Trump, Silvio Berlusconi oder anderen rechtspopulistischen und rechtsextremen Show-Politikern gemein, als den westlichen Beobachtern aufgefallen ist. Das Exzentrische, das Gigantomanische, der Bruch mit allen Regeln, die flegelhafte Sprache, das Macho-Getue, die Provokation all dessen, was aus ihrer Sicht als neumodische woke Verzärteltheit gilt – all das ist Teil des Programms dieser Figuren. Was bei jedem anderen zum Ende der Karriere führen würde, ist für sie noch die Quelle der Popularität.

Es ist stets spekulativ, inwiefern die Struktur der Macht – also das „System“, das eine Machtclique etabliert – und die Persönlichkeit, also individuelle Charakterzüge des Anführers aufeinander einwirken. Offensichtlich ist aber, wie perfekt sie sich im Falle Putins ergänzen. „Ich hatte mich bei meiner Arbeit als Reporterin nie unsicher gefühlt – das heißt, bis ich anfing, aus und über Sankt Petersburg zu schreiben“, berichtet die amerikanisch-russische Autorin Masha Gessen aus den neunziger Jahren. Bereits vor zehn Jahren hat Gessen in dem Buch „Der Mann ohne Gesicht“ eine Studie über Putins Aufstieg und Persönlichkeit vorgelegt, die aufmerksamere Leser und Leserinnen verdient hätte.

Sankt Petersburg, in das Gessen in den neunziger Jahren stolpert, war in der Hand des KGB und der Mafia und deswegen ganz anders als der Rest von Jelzins Russland. Gessen begegnete, ohne damit gerechnet zu haben, einem „Regierungssystem, das seine Feinde eliminierte – ein paranoides, geschlossenes System, das darauf ausgerichtet war, alles zu kontrollieren und alles zu vernichten, was es nicht kontrollieren konnte“.

Und das hintenherum quasi – vorne die Fassade von Demokratie und normaler Verwaltung, hinten die KGB-Mafia-Clique, die alle einschüchterte, die ihre Geschäfte störte. Putin ist ein „verschlossener, nicht sehr geselliger Mensch“ – so Gessens Urteil auf Basis von Gesprächen von Putin-Wegbegleitern und Quellenstudium – der routiniert darin ist, eine freundliche Miene aufzusetzen, und zugleich Feinde zu verfolgen. „Er ist ein kleiner, rachsüchtiger Mann“, so eine andere russische Star-Journalistin.

Nur ganz selten blitzt das bei öffentlichen Auftritten auf, etwa bei Journalistenfragen. Aber wenn, dann spürt man mit einmal den „unverhohlenen Hass“ in Putin. Gessen: „Seine Freunde kannten ihn als jemanden, der seinen Gegnern fast die Augen auskratze, wenn er wütend wurde.“ Zahllos sind die Episoden, mit welchen Vergnügen Putin „jemanden vor Publikum demütigt“, und dabei eine kalte Ruhe ausstrahlt, ohne die Stimme zu heben. Mehr dazu im Guardian-Artikel „Understanding Vladimir Putin, the Man Who Fooled the World“.

Ein Vertrauter aus jungen Tagen, dem Putin schon früh enthüllte, für den KGB zu arbeiten, fragte sich immer wieder, was genau sein Bekannter denn mache, was genau seine Fähigkeiten seien. Irgendwann merkte er, dass er nichts über Putin wusste. „Was können Sie?“, fragte er Putin eines Tages. Der antwortete: „Ich bin ein Experte für zwischenmenschliche Beziehungen.“

Mehr zum Thema lesen Sie in Michel Eltchaninoffs Werk „In Putins Kopf“ (derzeit leider vergriffen). Ein hervorragendes, aktuelles Interview mit Eltchaninoff finden Sie hier.


Robert Misik, 56, ist Journalist und Buchautor und seit 20 Jahren regelmäßiger Falter-Autor. Während der Wende-Jahre berichtete er immer wieder aus Russland, unter anderem vom letzten Parteitag der KPdSU. Demnächst erscheint im Suhrkamp-Verlag sein Buch: „Das große Beginnergefühl. Moderne, Zeitgeist, Revolution.“

Zuletzt erschienen:

Nr. 10 Aussichten auf den „nichtlinearen Krieg“ (27.04.2022)
Nr. 9 Putin „lebt in seiner eigenen Welt“ (26.04.2022)
Nr. 8 Die Geschichte als Waffe (23.04.2022)
Nr. 7 Der KGB-Mafia-Kapitalismus (21.04.2022)
Nr. 6 Der Mann, der unsere Gehirne hackt (19.04.2022)
Nr. 5 Putins schlimmster Alptraum (15.04.2022)
Nr. 3 Putins brauner Philosoph (11.04.2022)
Nr. 2 Der Rächer des beleidigten Russland (07.04.2022)
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