ROBERT MISIK —
07.04.2022
Jede gute Ideologie – „gut“ im Sinne von wirksam, nützlich für den, der sie verbreitet – benötigt zwei wesentliche Komponenten: eine Art positive Erzählung, ein überzeugendes Narrativ. Und zweitens eine negative Seite, nämlich einen Gegner, einen Feind, das Andere, zu dem sie eine Demarkationslinie zieht.
Vladimir Putin hat praktisch mit dem ersten Tag seiner Amtszeit als Präsident, also beginnend mit dem 31. Dezember 1999, eine ideologische Erzählung entwickelt, die eine solche Demarkationslinie zieht. Und es fällt auf: Nicht der Westen, nicht die Nato, kein äußerer Gegner wird hier zunächst etabliert (auch wenn uns heute Putins Pudel im Westen einreden wollen, dass es die Fehler des Westens gewesen seien, die die russische Politik radikalisierten). Der Gegner, das Andere, das Putin präsentiert sind die Neunziger Jahre. In den neunziger Jahren zerfiel die Sowjetunion, aber auch in Russland selbst wurde ein innerer Zerfall erlebt. Das Imperium ging verloren, und mit ihm die innere Ordnung. Die neunziger Jahre wurden als Ära des Chaos dargestellt, als neue „Zeit der Wirren“, in der die Staatlichkeit zerfiel (Russland erlebte solche Jahre schon vor hunderten Jahren, was im historischen Bewusstsein als Trauma verankert und daher leicht wach zu rufen ist). Die Russen hätten dieses Chaos satt, sie sehnen sich nach einer Wiedererrichtung einer starken Staatlichkeit. Die Unordnung – das ist der Gegner in dieser beginnenden ideologischen Erzählung.
In Putins Millennium-Botschaft ist alles Spätere schon angelegt, wenngleich nuancierter, vernünftiger als in späteren Jahren. Ein „starker Staat“, „Patriotismus“, der „Glaube an die Größe Russlands“, getragen von den „traditionellen Werten der Russen“, das sind die Catch-Phrasen, und hinzu kommt die Betonung der russischen Eigenart. Nicht die liberale Achtung vor den individuellen Freiheitsrechten sei die Basis der russischen politischen Traditionen, sondern das Vertrauen in den starken Staat.
Putin spricht, auch das ist ein Charakteristikum seiner Rhetorik, mehr als Analytiker oder Oberstudienrat denn als Tribun, leise, erklärend. Er erklärt eine Ideologie, noch trommelt er sie nicht. Er wendet sich auch explizit gegen Versuche, eine neue „Staatsideologie“ zu propagieren. Putin will ja nicht als Ideologe erscheinen, sondern als Pragmatiker, als der „Fixer“, der, der Probleme löst, der die Dinge „regelt“. Es ist Teil der Selbstpositionierung, die er vornimmt. Er ist kein Politiker, der irgendwelche Grabenkämpfe austrägt, sondern will als der angesehen werden, der die Probleme löst.
Von diesem Ausgangspunkt entwickelt Putin das, wovon er sagte, dass das Land es gerade nicht brauche – eine politische Ideologie, eine Staatsphilosophie. Eine Erklärung für Russlands Eigenart. Diese Staatsphilosophie hat eine Reihe von Elementen. Erstens: Russland brauche eine autokratische Herrschaft, eine „souveräne Demokratie“, ein Begriff, den wir nicht mit unseren Vorstellungen von Demokratie verwechseln sollen. Die Verkörperung der Souveränität ist die Einzelperson an der Spitze, das, was auf russisch „vozhd“ heißt. Der Anführer, der Präsident, der Zar. Er steht an der Spitze des starken Staates, aber auch auf seltsame Weise über ihn, jenseits von ihm. Diese Vorstellung stützt sich auf eine Tradition des politischen Volksglaubens, wie man das nennen könnte. Alles was falsch läuft im Staat ist entweder dem Chaos geschuldet, oder unfähigen Beamten, oder korrupten Politikern, oder verkommenen Oligarchen – aber „der Eine“ darüber ist nicht schuld. Er wird die Dinge regeln, wenn er von ihnen Wind bekommt. Ob Zar, ob Stalin, ob Putin, diese Projektionen haben eine lange Geschichte und Putin spielt gezielt mit ihnen.
Das zweite Element ist Patriotismus. Die Russen hätten eine „gesunden Patriotismus“, eine Liebe zum Vaterland. Sie wurden in der Geschichte immer überfallen, von Dschingis Khan über Napoleon bis Hitler, haben sich immer erfolgreich gewehrt, aber waren immer von außen bedroht. Dieser Patriotismus ist getragen vom Volk, dem „Narod“, und ähnlich wie der Begriff „Volk“ im Deutschen hat der Begriff „Narod“ verschiedene Konnotationen. Da ist einmal das „ethnische Volk“ – also die ethnischen Russen –, da ist „das Volk“ als die Bewohner des Territoriums, also die multiethnischen Angehörigen des russischen Staates, und da ist das „Volk“ verstanden als das „einfache Volk“, also die normalen Leute, die mit den Spleens abgehobener Eliten in Moskau (oder dem modernistischen Lebensstil des dekadenten Westens) wenig anfangen können. Der „Große Vaterländische Krieg“, also Russlands Krieg und Sieg über Hitler-Deutschland, spielt deshalb so eine große Rolle in der politischen Rhetorik Russlands und des Kremls.
Das dritte Element ist Territorium. Bereits 2005 bezeichnete Putin den Zerfall der Sowjetunion in seiner Rede vor den Mitgliedern der Föderationsversammlung als „die größte geopolitische Katastrophe“ des 20. Jahrhunderts. Die Basis der russischen „Größe“ ist das Reich. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion geschah aber aus Putins Sicht mehrerlei. Es setzte ein Zerfall im Inneren ein, die Wirren, aber auch der Abfall von Territorien, die Teilweise über Jahrhunderte zum russischen Reich gehört hatten. Dazu zählten die zentralasiatischen Republiken, aber auch Länder, die als russisches Kernland betrachtet wurden – allen voran die Ukraine und Weißrussland. Und auch innerhalb der verbliebenen russischen Föderation erhielten zentrifugale Tendenzen Schwung, Absetzbewegungen, vor allem jener Regionen, die von ethnischen Minderheiten bewohnt werden. Innerlich schwach und an den Rändern zerfasernd würde Russland seine Rolle als wesentliche Macht in der Welt verlieren – eine Aussicht, vor der Putin schon 1999 warnte. „Erstmals in der Geschichte der letzten zwei- oder dreihundert Jahre, läuft Russland Gefahr, zu einer zweit- oder sogar drittrangigen der globalen Mächte zu werden.“ Und das müsse verhindert werden.
Das vierte Element dieser politischen Philosophie ist ein volkstümlicher Konservativismus, der die Werte und die Spiritualität des „Narod“, des Volkes, hochhält, und eng mit der christlich-orthodoxen Kirche und der orthodoxen Tradition Russlands verbunden ist. Nach dem Scheitern säkularer politischer Ideologien ist die Kirche und deren Tradition das, was Russland zusammenhält. Man greift zurück auf das, was vor Lenin da war – die Ideen eines „heiligen Russland“. Damit einher geht ein Rückgriff auf Parteiungen, die das 19. Jahrhundert in Russland prägten, auf den harten Kampf zwischen „Ostlern“ und „Westlern“. Die Westler waren für Modernisierung, Liberalität, Säkularisierung und Aufklärung, die Ostler hielten die Eigenart des christlichen Russland hoch. (Siehe hierzu etwa: Thomas G. Masaryk: Russische Geistes- und Religionsgeschichte. 2 Bände. Jena, 1912, Link)
„Von Beginn an“, schreibt Catherin Belton, „haben sie (Putins Leute) nach einer neuen nationalen Identität gesucht. Die Lehren der Orthodoxen Kirche stellten eine mächtige, verbindende Überzeugung bereit, die weit vor die sowjetische Ära zurück reichten in die Tage von Russlands imperialer Vergangenheit, die Geschichten erzählten von den Opfern, dem Leiden und der Geduld des russischen Volkes, einen mystischen Glauben an Russland als ‚Drittes Rom‘, das nächste Reich auf Erden.“ (Link)
Es lieferte quasi die Grundierung für den russischen Exzeptionalismus, also für die Erzählung, dass Liberalismus und Individualismus einfach nicht zu Russland passen.
Diese vier Elemente – autokratische Führerherrschaft, Patriotismus, Territorium/Imperium und orthodoxe Spiritualität – wurden in einen Prozess zunehmender Selbstradikalisierung zu einer Ideologie umgeformt, die von einem lupenreinen Faschismus kaum mehr zu unterscheiden ist. Auch Putins Ansichten wurden mehr und mehr extrem. (Siehe hierzu unter anderem hier.)
Aber es gibt einen signifikanten Unterschied zu den meisten faschistischen Ideologien. Das fünfte Element fehlt, das der ethnischen Reinheit, also das „völkische“ Element. Nicht nur das Imperium umfasste viele Völker, auch das heute verbliebene russische Reich – die russische Föderation – ist multinational. Zwar hat Putin keine Scheu, abtrünnige Völker als Gangster, Verbrecher, Islamisten und alles Mögliche zu beschimpfen und ethnischen und auch religiösen Hass anzustacheln, wie etwa gegen die Tschetschenen und jetzt auch die Ukrainer (wobei er die ja gerade nicht als andere Ethnie ansieht, aber das ist eine andere Sache), aber er beschimpft sie nicht, weil sie ethnisch „Andere“ sind, sondern weil sie sich gegen die russische Herrschaft auflehnen. Er ist gewissermaßen ein pragmatischer Rassist – er spielt die Ethno-Karte nur aus, wenn sie gerade nützt.
In Zeitschriftenartikel und Parlamentsansprachen hat er sich immer wieder gegen ethnische Zwietracht ausgesprochen und gegen direkte rassistische Hetze: „Ich bin davon überzeugt“, schrieb er etwa, „dass die Versuche, eine Idee des ‚nationalen‘ oder monoethnischen russischen Staates unserer tausendjährigen Geschichte widerspricht. Mehr noch, ich bin überzeugt, dass das das russische Volk und die russische Staatlichkeit zerstören würde.“
In einer Parlamentsansprache 2012 sagte er: „Versteht ihr, was wir anrichten würden? Ein Teil unserer Gesellschaft würde aus Bürgern erster Klasse und ein Teil aus Bürgern zweiter Klasse bestehen. Wir dürfen das nicht tun, wenn Sie und ich eine starke, einige Nation, ein starkes, einiges Volk wollen. Die Tatsache, dass die Russen – ohne Zweifel – der Kitt des multinationalen russischen Volkes sind, kann nicht in Zweifel gezogen werden, aber dass wir alle in erste, zweite und dritte Klassen an Bürgern aufteilen, das wäre ein gefährlicher Weg. Sie und ich, wir alle, wir dürfen das nicht tun.“ (Quelle)
Putins Staatsideologie erzählt die Geschichte von russischer Größe, russischer Eigenart, vom einfachen Volk, das das Herz am rechten Fleck hat – aber es kommt dann nach und nach auch eines hinzu: Die Geschichte vom Volk, das betrogen wird. Der Verlust des Imperiums, der Zerfall der Sowjetunion, er ist eine große narzisstische Kränkung. Und die Schwäche Russlands wurde vom Westen ausgenützt. Die Nato in den Osten verschoben, Brüdervölker, sei es in der Ukraine, sei es in Georgien, in die westliche Welt gelockt mit ihren vergifteten Verheißungen von Freiheit und Liberalität. Dagegen zu halten, wird zu einer Frage von Leben und Tod für die russische Nation. Eine aus der Weltgeschichte (nicht nur der russischen) durchaus bekannte, aber praktische rhetorische Operation: Jede Aggression lässt sich aus dieser Perspektive in Verteidigung umdeuten. (Link)
Putins Rhetorik, schreibt der Slavist Riccardo Nicolosi, hat neben logischen und narrativen Elementen immer auch eine „affektrhetorische Ebene, die heftige, akute Emotionen hervorrufen will“.
Putin beschreibt Russland als ein Volk der „Erniedrigten und Beleidigten“, die, was immer sie tun, sich nur gegen einen mächtigen Gegner wehren.
Nicolosi:
„Putin modelliert (..) das postsowjetische Russland als ein zutiefst gekränktes Land, das vom „Westen“ wiederholt beleidigt und betrogen worden sei. In historischer Perspektive handelt es sich dabei um die letzte Etappe eines alten, von westlichen Mächten beharrlich vorangetriebenen politischen Programms der ‚Eindämmung‘ Russlands. Den ‚Verlust‘ der Krim nach dem Zerfall der Sowjetunion beschreibt Putin mit der emotionalen Metapher des ‚Raubs‘ (‚Als die Krim plötzlich in einem anderen Staat lag, war das für Russland so, als wäre es nicht nur bestohlen, sondern regelrecht ausgeraubt worden‘). (…)
Die Opposition zwischen einem gutgläubigen, und deshalb erniedrigten und beleidigten Russland und dem listigen ‚Westen‘ mündet in eine wütende Invektive, vorgetragenen in einer direkten, emotionalen Sprache.“ (Link)
So formuliert Putin in seiner pompösen Rede zur Wiedereingliederung der Krim im Jahre 2014:
‚Uns ist klar, was hier abläuft […] Wir wurden ein ums andere Mal betrogen […]. Aber alles hat seine Grenzen. […] Wenn man eine Feder bis zum Anschlag zusammendrückt, wird sie irgendwann mit aller Kraft auseinander schnellen. Das sollte man nie vergessen.‘
All das, diese Emotion der Kränkung, der Glaube an die russische Exzeptionalität und die Sehnsucht nach dem Imperium wird zu einer regelrechten mörderischen Ideologie verrührt. Wie jede Staatsidee, die so stark mit Geschichte verbunden ist, braucht auch diese Stichwortgeber, historische Denker, die als Gewährsleute herhalten müssen und zeitgenössische Denker, die die Ideologie verbreiten, teilweise in radikalisierter Form (was die praktische Eigenart hat, dass sich der Präsident in Relation dazu vergleichsweise ‚moderat‘ präsentieren kann).
Diesen Denkern, Autoren und Gewährsleuten – und wie es kam, dass sich der postkommunistische KGB-Mann Putin mit historischen Figuren der zaristischen, antikommunistischen Gegenrevolution schmückte – werden wir uns in der dritten Folge widmen.
Robert Misik, 56, ist Journalist und Buchautor und seit 20 Jahren regelmäßiger Falter-Autor. Während der Wende-Jahre berichtete er immer wieder aus Russland, unter anderem vom letzten Parteitag der KPdSU. Demnächst erscheint im Suhrkamp-Verlag sein Buch: „Das große Beginnergefühl. Moderne, Zeitgeist, Revolution.“
Zuletzt erschienen:
Nr. 10 Aussichten auf den „nichtlinearen Krieg“ (27.04.2022)Nr. 9 Putin „lebt in seiner eigenen Welt“ (26.04.2022)
Nr. 8 Die Geschichte als Waffe (23.04.2022)
Nr. 7 Der KGB-Mafia-Kapitalismus (21.04.2022)
Nr. 6 Der Mann, der unsere Gehirne hackt (19.04.2022)
Nr. 5 Putins schlimmster Alptraum (15.04.2022)
Nr. 4 „An seinen Eiern aufhängen“ (13.04.2022)
Nr. 3 Putins brauner Philosoph (11.04.2022)
Nr. 1 „Ich war ein echter Schläger“ (06.04.2022)