Wiedergelesen: was ich vor 20 Jahren zu 9/11 schrieb.

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 516

Armin Thurnher
am 09.09.2021

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Zur Idee der Seuchenkolumne gehört es auch, Ihnen ältere Texte von mir zu präsentieren. Mir selbst ist die Begegnung mit einst Geschriebenem selten peinlich, soviel Narziss steckt schon in mir. Manchmal wundere ich, was alles aus mir herausrann, manchmal ist die Begegnung mit mir selbst lehrreich, manchmal kann ich auch froh sein, etwas geschrieben zu haben, das hielt. Zum Thema 20 Jahre 9/11 habe ich schon einiges geschrieben, ein Falter-Maily, ein, zwei Seuchenkolumnen und ein Seinesgleichen geschieht. More to come: In welchem Zeichen die auch am 11. September eingeläutete Zeitenwende wirklich abläuft, das wird weiterhin ausgestritten. Und den Kommentar des im steigenden Ozean ertrinkenden New York möchte ich nicht schreiben müssen. Die Chance, ihm zu entgehen, schwindet.

Am Jahrestag des Anschlags, der die Welt veränderte, bringe ich hier noch einmal, was ich von 20 Jahren, am 19. 9. 2001 im Falter schrieb, unter dem Titel „Ich bin ein New Yorker“ und dem Untertitel „Nach dem 11. 9. 2001 ist die Welt nicht mehr die gleiche, sagt man. Einige Dinge sollten bleiben“.

Falter-Cover vom 19.9.2001


»Ich bin ein New Yorker. Nicht im emphatischen Sinn von Schröder, Kennedy & Co. Aber ein bisschen. Hauptsächlich bin ich ein Gemisch aus Wiener und Vorarlberger, mit mindestens einem Fünfzigstel Schuss Big Apple. Ein Jahr verbrachte ich auf Staten Island, beinahe jeden Tag fuhr ich mit der South-Ferry zur Südspitze Manhattans, vorbei an der Statue of Liberty, direkt unter die Skyline hinein. Nie wurde ich des Anblicks nur ein wenig müde.

Dann kam der letzte Dienstag. Unbetroffen sollen Journalisten immer sein; aber manchmal geht mangelnde Betroffenheit in Inhumanität über. Einerseits kann man angesichts der mörderischen Terrorattentate der letzten Woche den reflexartigen Ruf nach Strafe nicht unterdrücken. Verbrechen müssen bestraft werden. Andererseits aber erst, wenn feststeht, wer die Verbrecher sind. Selbst wenn sich die Täter außerhalb jedes Rechts stellen, hat diese Feststellung im Rahmen des Rechtsstaats und des Völkerrechts zu geschehen.

Wir schießen nicht ohne zu fragen zwischen die Augen. Wir sind weder Cowboys noch Kreuzritter, auch wenn manche von uns jetzt so reden. Die Schreckenstat darf uns nicht zu Selbstvergessenheit verleiten, weder zur Missachtung hart erkämpfter ziviler Standards noch zu einem Rückfall in biblischen Hass. Wir sind moderne Menschen, Großstädter. Selbst wenn wir am Land leben, ist unsere Haltung zivilisiert, das heißt urban. Und der Inbegriff der modernen Großstadt ist New York. Wir sind New Yorker, oder wir sollten zumindest versuchen, es nach dem 11. September 2001 zu sein.

Auch wenn die Welt sich seither nicht mehr gleicht. Jedenfalls ist die Verdrängung der Risiken schwerer geworden, die uns das moderne Leben erträglich macht, Es ist eben voll Bewegung, Unbekanntem, Fremdem, pozentiell Bösem. Jeder halbwegs sensible Mensch kann nicht umhin, den glitzernden Metropolen ihre Ruinengestalt mit anzusehen. Gerade das ist new-yorkerisch: Ein Stück weniger Verdrängung, ein scharfes Empfinden, an der Bugkante der Zeit zu leben.

New York ist Amerika und ist es nicht. Das läuft nicht auf Antiamerikanismus hinaus, aber es gibt einen Unterschied. Amerika ist der Präsident George Bush, der sagt: „Es ist ihnen nicht gelungen, unsere Entschlossenheit ins Wanken zu bringen.“ New York ist der Intellektuelle Tony Judt, der antwortet: „Sie wollten nicht unsere Entschlossenheit ins Wanken bringen, sondern das World Trade Center und das Pentagon in Schutt und Asche legen, und das ist ihnen gelungen.“ New York ist nicht nur unsentimental, es ist auch unbigott, kaltschnäuzig und warmherzig zugleich, multikulturell und natürlich: schön. „Sieh mein Manhattan mit Türmen und Wechselglanz der Gezeiten und Schiffen“, dieses Wunder stellte Walt Whitman vor 150 Jahren neben jenes der „weit gebreiteten Steppen mit Gras und Korn“.

Wir New Yorker, wherever we live, fühlen uns, gerade im Augenblick, da sie angegriffen wird, dieser gemischten Schönheit verpflichtet. Wir müssen nicht kalt sein, nicht einmal cool; aber gefasst. So gut es geht, pflegen wir die städtische Tugend des Skeptizismus gegenüber den Kaskaden der lähmenden Fernsehbilder und des ubiquitären Geschwätzes. So gut es geht, versuchen wir, die subtilen und unsubtilen Fälschungen der Medien zu durchschauen und uns nicht irre machen zu lassen (wir wissen, Propaganda gehört zur modernen Kriegsführung; wenn auch die Bilder jubelnder Palästinenser auf CNN fragwürdig sind, gibt es doch auf allen Kontinenten Menschen mit einem so tiefen Hass auf die USA, dass sie sich über das monströse Attentat freuen).

Wir denken nicht daran, auf das Geschwätz der Paranoiker hereinzufallen, die bereits suggerieren möchten, dass womöglich die USA selbst hinter dem Anschlag stecken (schon gelesen auf linken Websites). Wir wollen differenzieren zwischen jenem Amerika, das mit Cowboy- und Kreuzritterrhetorik die Instinkte der Massen befriedigt, und jenem Amerika, das neben dem Entsetzen und der berechtigten Forderung nach Sühne die Sache in gemäßigter Weise zu analysieren versucht. Einem Amerika, das sich freut, dass nun auch reaktionäre Senatoren ihre antiisolationistischen Vorbehalte über Bord werfen und die Notwendigkeit internationaler Institutionen anerkennen.

Üble Aufrechner (soundsoviele Kinder verhungern täglich, der Golfkrieg war schlimmer etcetera) brauchen wir genauso wenig wie die Kriegshetzer, die immer gern fremde Leben aufs Spiel setzen. Es stimmt, dass der Hass Ursachen in einer ungerechten Weltordnung hat; diese ist zu ändern, aber das rechtfertigt keinen Terrorismus. Der Anschlag richtete sich gegen die Symbole des Weltkapitals und seiner militärischen Macht; aber es ist echtes Blut geflossen. Wir lassen uns deswegen nicht zur Blutrache gegen Muslime oder arabisch aussehende Menschen verhetzen.

Rechtsstaatliche Entschlossenheit ist gefragt. Das urbane, westliche System muss sich verteidigen, aber urban und westlich. Wir New Yorker sind weder Warmduscher noch Weicheier, wir sind hartgesotten und kaltschnäuzig, aber keine Bluthunde. Für uns gibt es kein Kritikverbot. Freiheit heißt für uns: Freedom of Speech, Bürgerfreiheit, Menschenrecht. Wir müssen nicht einmal „wir“ sagen. Ich jedenfalls bleibe New Yorker.«


Distance, hands, masks, be considerate!

Ihr Armin Thurnher

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