Gegrunze

Bild von Peter Iwaniewicz
FALTER 5/2006 ,

„Doppelzimmer“ heißt eine Sendung auf FM4. Dort können mitteilungsbedürftige Menschen private Banalitäten vor Publikum ausbreiten und werden dabei von mehr oder weniger eleganten Moderatoren eher mehr denn weniger öffentlich vorgeführt. Derlei wäre noch nicht berichtenswert, wenn diese Sendung nicht seit einiger Zeit Ziel eines „Tierstimmenimitator“ genannten Anrufers wäre, der anfangs noch scheinbar bemüht auf belanglose Fragen antwortet, dann aber plötzlich nur mehr verschiedene Tierlaute von sich gibt. Wechselnde Telefonnummern und verstellte Stimmen verschleiern seine Identität und erhöhen die Paranoia der Moderatoren, die sich nur mehr zögerlich auf ein Gespräch einlassen wollen, das schlussendlich wieder mit Gebell und Gegrunze endet. Eine eigentlich interessante Umkehr des Talk-Radio-Prinzips, den Anrufer bloßzustellen. Handelt es sich also dabei um einen anarchistischen Spaßguerillero, der in aktionistischer Manier die Plattheit der öffentlichen Medienkultur anprangert? Ist es eine verirrte Seele, deren Besessenheit nur von einem Priester mit dem großen Exorzismus ausgetrieben werden kann? Oder ist der Anrufer der stressigen Situation eines Liveinterviews nicht gewachsen und muss den Spannungsabbau auf diese animalisch-regressive Weise leisten? Beim Tourettesyndrom erscheinen solche Phänomene als komplexe vokale Tic-Störung, bei der die Betroffenen plötzlich ohne erkennbaren Grund oder Zweck sozial unangebrachte oder obszöne Wörter in regelrechten Salven von sich geben. Dies wird als impulsiver Zwang erlebt, dem man machtlos ausgeliefert ist, und der – ähnlich einem Schluckauf – nur kurze Zeit unterdrückbar ist.

Vielleicht sind die Ursachen aber auch viel einfacher, und der Anrufer ist des aufrechten Gangs noch nicht mächtig. Denn ohne diese evolutive Weiterentwicklung ist nach Ansicht des Neuropsychologen Robert Provine keine Atmung möglich, mit der sich vernünftig sprechen lässt. Vierbeiner wie Hunde und Katzen müssen noch bei jedem Schritt einmal ein- und ausatmen. Menschen hingegen können dank ihrer zweibeinigen Gehweise mehrere Schritte machen, bis sie wieder Luft in ihre Lungen einatmen müssen. Erst dieser Umstand ermöglicht eine flüssige, ununterbrochene Sprachäußerung. FM4 braucht einfach mehr aufrechte Anrufer.

FALTER 5/2006 Cover

Dieser Artikel erschien am 31.01.2006 im FALTER 5/2006

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