Gehen auf dünnem Eis

Wie Demokratien auf dünnes Eis geraten und wer sie wieder auf festen Boden zurückholen kann

Harry Bergmann
am 29.11.2022

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Demokratie in Einsturzgefahr | Foto: Erica Nilsson/ Unsplash

Wieder einmal auf dem Weg nach Israel. Flugnummer, wie immer: OS 857. Mit großer Vorfreude, wie immer. In die Vorfreude mischt sich diesmal aber auch Neugierde. Ängstliche Neugierde? Ja, vielleicht ängstliche Neugierde.

Neugierde, wie sich „mein Land” nach der Wahl anfühlen wird. Eine Wahl, die ich in den letzten Wochen in Österreich nach Kräften versucht habe zu verteidigen. Verteidigen? Nein, nicht verteidigen! Zu relativieren, mit Angemessenheit einzuordnen und – soweit ich das überhaupt kann – zu erklären.

Ich hatte die wunderbare Gelegenheit, gemeinsam mit meinem Freund Erwin Javor, der mit Stefan Kaltenbrunner das Buch „Israel- Was geht mich das an?“ herausgegeben hat, eine Stunde in Ö1 gehört zu werden. In dieser Stunde haben wir versucht, unsere Sicht der Dinge – was Israel betrifft – zu erplaudern, zu diskutieren, zu erläutern. Wir beide sind nicht unbedingt immer ein und derselben Meinung, aber das hat es für die Zuhörer sicher interessanter gemacht. Zumindest jene Zuhörer, die wirklich zuhören und nicht nur das Echo ihrer Meinung hören wollten.

Das klingt für jemanden wie mich, der in Israel geboren ist, aber fast sein ganzes Leben in Österreich gelebt hat, einfacher, als es ist. Äußert man sein persönliches Unbehagen mit der derzeitige Politik Israels, bekommt man Applaus von den völlig falschen Rängen – von BDS-Aficionados, von als Antizionisten verkleideten Antisemiten, bis hin zu den aufrechtesten aller Rechtesten – versucht man einzulenken und abzuschwächen, um den antiisraelischen Pfeilen zumindest die vergifteten Spitzen zu nehmen, rennt man genau in diese Pfeile hinein.

Einfach Schweigen geht auch nicht. Kommt vor allem im Radio nicht so gut.

Die Welt ist schnell mit Zuordnungen, Urteilen, Vorurteilen, Verurteilungen, Vereinfachungen zur Hand. Wenn es um Israel geht, umso schneller. Wir leben in einer Welt der Headlines. Für mehr Text ist keine Zeit und keine Lust. Wir leben in einer Welt der Dezibel. Wer lauter schreit, wird gehört. Wir leben in einer Welt der unzulässigen Verkürzung. Bist du nicht weiß, bist du schwarz. Bist du nicht links, bist du rechts. Bist du der vermeintlich Stärkere, hast du schon alle Sympathien verloren. Schreist du „Holocaust!!” in den Wald, tönt es „Wie lange sollen wir uns das noch anhören müssen?” zurück.

Nach dieser Wahl ist es noch einfacher geworden, Israel in eine Schublade zu legen. Rechtsruck! Netanjahu, der Trickreichste unter den seit Jahrhunderten „Trickreichen“! Netanjahu, die Gallionsfigur des schlauen Winkelzugs! Netanjahu, der mit einem Fuß im Kriminal steht und nichts unversucht lassen wird, diesen Fuß wieder herauszuziehen!

Schubladen sind leicht zu beschriften.

Wichtiger Einschub, bevor ich selbst in der falschen Schublade lande. Ich verabscheue die Politik Netanjahus. Ich verachte das Weltbild jener ultra-rechten Parteien, die jetzt in der Regierungskoalition sind, damit er wieder den Premierminister spielen darf.

Aber: Israel ist aus dem gleichen Grund in diese widerliche politische Situation hineingekommen, wie es – eben aus diesem Grund – hoffentlich bald wieder herauskommen wird. Dieser Grund heißt Demokratie. Dieser Grund heißt demokratische Wahlen. Und die gehen leider auch manchmal in die völlig falsche Richtung. Ich erinnere mich an einen offenen Porsche, in dem Schüssel und Haider saßen. Aber das ist eine andere Baustelle.

Die Demokratie in Israel wird nicht an Netanjahu sterben, davon bin ich fest überzeugt. Ja, sie ist an Netanjahu erkrankt, wie so viele Demokratien auf dieser Welt an Populisten und Autokratie-Träumern erkrankt sind. Und das erste Symptom dieser Krankheit ist immer der Versuch der Aushöhlung der Justiz, das Bemächtigen der Obersten Gerichte, das Umstoßen und Revidieren von einmal aus gutem Grund gefällten Urteilen. Ich müsste lügen, wenn ich sage, dass diese Gefahr in Israel nicht besteht.

Der Pilot sagt gerade etwas von „beginnendem Sinkflug“. Weiß er, was ich schreibe oder parallel dazu gerade lese? Ich lese nämlich einen interessanten Artikel im SPIEGEL über den möglichen Sinkflug von Demokratien. Da schreibt Michael Ignatieff, ein kanadischer Historiker und Politiker: „Die Zukunft der Demokratie ist nicht gesichert, wir haben sie selbst in der Hand. Sie ist eine zerbrechliche Form der Selbstverwaltung, abhängig davon, dass viele Dinge gleichzeitig richtig laufen.“

Und er schreibt weiter: „Demokratie ist nicht nur ein Entscheidungsverfahren. Sie ist eine Lebensweise, basierend auf einem erkenntnisbasierten Vertrauen in Fakten, auf einer Soziologie der Toleranz gegenüber Unterschieden, auf einer Kultur aktiver und engagierter Bürgerinnen und Bürger, auf einer Ökonomie des regulierten Marktes und auf einem Kardinalverbot der Anwendung von Einschüchterung in der Politik. Das ist ein ziemliches Paket, und zu jedem Zeitpunkt können jeder gegebenen Demokratie einige dieser wichtigen Eigenschaften fehlen.“

Er schreibt auch etwas über den unaufhörlichen Kampf um die Macht, geführt von Politikern, die nur selten Vertrauen und Zuversicht wecken. Ich möchte ergänzen, dass es immer auch einzelne Politiker sind, die das Spiel machen. Trump, Kurz und eben Netanjahu. In Israel gäbe es ohne Netanjahu eine – nennen wir sie „ganz normale“ – Mitte-Rechts-Regierung, weil ohne ihn ganz andere Koalitionen und Konstellationen möglich wären.

Damit ich aber nicht nur von dem Flughafen rede, an dem ich gleich ankommen werde, sondern kurz auch von dem, von dem ich weggeflogen bin: „Es gibt viele Möglichkeiten, wie eine Demokratie stirbt. Manchmal schleicht sich der Tod auf leisen Sohlen an. Wir sehen ihn nicht, nicht einmal in Europa, bis er neben anderen Ministerpräsidenten im Europarat sitzt.“

Was in aller Welt soll die Anbiederung an Viktor Orbán, Herr Bundeskanzler? Oder, wie es Beate Meinl-Reisinger wesentlich lässiger, als ich das könnte, sagte: warum lassen Sie sich am Nasenring durch die Manege führen?

Ich werde Ihnen jedenfalls aus Israel berichten, verspricht

Ihr Harry Bergmann


Dr. Harry Bergmann, Werbedilettant (gar nicht einmal so schlecht), Kolumnisten-Dilettant (na, ja…). Hat durch das Schreiben einige Freunde verloren, aber mehr gewonnen (glaubt er zumindest). Denkt seit einiger Zeit darüber nach, ob der Flug Wien – Tel Aviv ein Hinflug oder ein Rückflug ist.

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