Die Erdkrümmung

Novemberliche Gedanken über Politik, Journalismus und Ferdinand von Schirach in der neuen Kolumne von Harry Bergmann

Harry Bergmann
am 11.11.2022

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Zoomt man weit genug hinaus, kann man ihre Krümmung sehen: Die Erde von oben | Foto: NASA | Gemeinfrei

Ich lese Ferdinand von Schirach. Ich lese seinen kleinen, feinen Erzählband „Kaffee und Zigaretten“. Seine Gedanken lesen sich tatsächlich wie Kaffee und Zigaretten, anregend und entspannend zugleich. Diese leisen, schlanken Sätze, die gleichzeitig so ein großes Volumen an Gefühlen tragen, was gäbe ich darum, so schreiben zu können.

Ich lese ihn immer anders, je nachdem, wann ich ihn lese. Jetzt – in den ersten grau in grauen Novembertagen – folge ich ihm, wie er in die dunkelsten Ecken des Lebens hineinleuchtet. In menschliche Abgründe. In gesellschaftliche Abgründe. Und ja, auch in politische Abgründe. Genau in die Abgründe, die mich seit vielen Monaten nicht loslassen und mit denen ich Sie nicht in Ruhe lasse.

„War Politik immer schon so?“, frage ich mich. Ich habe keine Antwort darauf. In den letzten Jahren ist sie jedenfalls so. Wenn sich Schirach dem Politischen nähert, dann werden seine Sätze nüchtern und präzise. Die Sprache des Juristen, seines erlernten Berufs.

Da lese ich: „Alle wichtigen gesellschaftlichen Ereignisse spiegeln sich in Strafprozessen wider. Der Streit um den richtigen Weg wird immer auch vor den Gerichten und nicht nur in Wahlen ausgetragen.“

Ich denke reflexartig an die Farbe Türkis. Vielleicht haben andere andere Reflexe, bei mir ist das Pawlow‘sche Dreieck Türkis. Ich denke an die Person Thomas Schmid. An seinen von der Öffentlichkeit ersehnten Auftritt im parlamentarischen Untersuchungsausschuss. Ich gewöhne mir wieder an, den „parlamentarischen Untersuchungsausschuss“ im vollen Wortlaut auszuschreiben, in der kindlichen Hoffnung, dass ihm das seine ursprüngliche Bedeutung zurückgeben könnte. Wenn Sobotka endlich geht oder gegangen sein wird, verspreche ich auch „Erster Nationalratspräsident und Vorsitzender des parlamentarischen Untersuchungsausschusses“ voll auszuschreiben. Aber erst dann.

Halt! Ich will hier nicht mehr weiterdenken, geschweige denn darüber weiterschreiben.

Ich will nicht mehr. Mir ist das alles schon zu blöd. Immer das Gleiche. Es beginnt langweilig zu werden. Kolumne für Kolumne habe ich mich an dem Pack abgearbeitet.

Wofür? Für nichts. Nichts ist besser geworden, alles nur schlechter. Täglich schlechter.

Das sollen Leute machen, die mehr Einfluss haben. Gibt es ja genug beim Falter oder beim Standard oder im Profil oder in welcher Chefredaktion auch immer. Das sollen Leute machen, die diese Chefredaktionen in den letzten Tagen nicht ratzfatz verlassen mussten oder sich kurzfristig zu einem Urlaub entschlossen haben. Das sollen Leute machen, die viel mehr wissen und viel besser schreiben können, wie ein Christian Nusser zum Beispiel. Bei ihm kann man sich über die ganze Schieflage der Nation auch noch schieflachen.

Ich will nicht mehr. Es passiert zu viel in dieser Welt, das genauso krumm, aber viel wichtiger ist. Wohin man schaut kann man die Krümmung mit freiem Auge erkennen. Das Geschäft der Politik ist so krumm geworden, dass die Aufrechten sich unmöglich so verbiegen können, dass sie überhaupt noch hineinpassen. Bananen-krumm ist das neue Kerzen-gerade. Die Erde ist eben eine krumme Kugel und keine Scheibe. Dieser vollkommen vertrottelte naturwissenschaftliche Vergleich, ist ein weiterer Beweis dafür, dass lieber andere über diese komplexe Materie schreiben sollen.

Ich will nicht mehr. Ich will nicht mehr vermuten und schon gar nicht die Unschuld von jemanden, dessen Schuld so klar ist, wie die Tatsache, dass Trump oder Orbán oder Erdogan oder Bolsonaro oder Lukaschenko oder Kim Jong-un keine glühenden Demokraten sind.

Ich will nicht mehr. Ich will nicht mehr versuchen zu verstehen, ob der eine wirklich so krumm ist, wie der andere behauptet, oder ob der andere – der Behaupter – noch viel krummer ist, als der Behauptete.

Ich will nicht mehr. Kurz, Kickl, Sobotka, Strache, Hörl, Hanger, Schmid, Blümel, Karner & Co., ihr alpenglühenden, krummen Irgendwas-kraten „baba und foids net“ oder besser gesagt: „foids, wie und wohin ihr wollts, aber bald“. Mich interessiert das alles nicht mehr. I am out!

Selbst in meiner anderen Heimat, in Israel, krümmt es sich ganz gehörig. Das letzte Wahlergebnis tut weh. Dass er wieder da ist tut weh. Dass andere, seines Schlages, jederzeit wieder da sein können, wenn sogar er wieder da ist, tut weh. Wie sehr es weh tut und warum es dennoch ein Quantum Trost gibt, können Sie nachhören. Mein Freund Erwin Javor und ich haben darüber am Montag in der Ö1-Sendung „Punkt1“ gesprochen. Und ein Buch gibt es auch noch dazu: „Israel – Was geht mich das an.“ Ende der Werbedurchsage.

Aber wo ist es besser? Bei den post-faschistischen Italienern? Nein.

Bei den Oh-dear-Oh-dear Engländern, wo eine Liz Truss das Kunststück zu Wege gebracht hat, kürzer in Downing Street 10 zu residieren, als Schallenberg im Bundeskanzleramt? Nein. In den USA, wo eine Niederlage der Demokraten von den Demokraten als Triumph gefeiert wird, weil sie eine noch viel höhere Niederlage erwartet haben? Nein.

Schreiben Sie mir doch, liebe Leserinnen und Leser, wo es besser ist. Während ich auf Ihre Antwort warte, lese ich bei Ferdinand von Schirach weiter. Schwierig genug, jetzt im November, wo es immer auch um das Ende geht.

Kostprobe gefällig? „Bei unserer Geburt wird ein Pfeil auf uns abgeschossen, der uns in dem Moment unseres Todes erreicht.“ Scheiß November!

Ihr Harry Bergmann


Dr. Harry Bergmann, Werbedilettant (gar nicht einmal so schlecht), Kolumnisten-Dilettant (na, ja…). Hat durch das Schreiben einige Freunde verloren, aber mehr gewonnen (glaubt er zumindest). Denkt seit einiger Zeit darüber nach, ob der Flug Wien – Tel Aviv ein Hinflug oder ein Rückflug ist.

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