Es ist 5 vor 12

Darf es wahr sein, dass in der Ukraine Krieg ausbricht? Und darf es wahr sein, dass dies nur einer von zahllosen Konflikten ist, die derzeit auf 5 vor 12 stehen?

Harry Bergmann
am 23.02.2022

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EIN DIPLOMAT ZU SEINEN BESTEN ZEITEN | FOTO: ALEXANDER MIGL /WIKICOMMONS/ CC BY-SA 4.0

Wenn ich meine Kolumne mit der Headline beginne, endet das oft in einem Dilemma. In dem Moment, in dem sie dasteht, die Headline, will ich über etwas anderes schreiben, für das ich aber – zumindest im Moment – keine Headline habe. Daran erkennt man, dass ich kein echter Kolumnist bin. Also kein Profi-Kolumnist. Einer, der das gelernt hat und es jetzt – neben der Berühmtheit, die er dabei erlangt – zum Broterwerb ausübt. Ein Profi kennt das Ziel seiner Kolumne und steuert es mit stilsicherer Hand an. Aber der schreibt auch auf Papier. Also er schreibt nicht wirklich auf Papier, sondern das, was er schreibt, wird auf Papier gedruckt. Ich hingegen bin ein Amateur, ein Blogger, der in die Liga der Kolumnisten wohl erst dann aufsteigen wird, wenn ich das mit der Headline in den Griff bekomme.

Diesmal ist es aber ohnehin anders. Ich weiß – in etwa – worüber ich schreiben möchte, habe aber zwei Headlines.

Die zweite Headline:

Mehr Opel als Diplomat

Ich fange vielleicht lieber mit der an.

Kennen Sie den Opel Diplomat? Wenn nicht, machen Sie sich bitte nichts draus. Den Opel Diplomat gibt es seit dem Jahre 1977 nicht mehr. Er war das Spitzenmodell der Oberklasse der Adam Opel AG. Ja, Opel hat tatsächlich einen Vornamen. Adam. Adam, wie der erste Mensch. Wenn Sie das auch nicht gewusst haben, müssen Sie sich keineswegs wie der erste Mensch fühlen. Sollten Sie einen Opel kaufen wollen, genügt es völlig, wenn Sie beim Händler das Auto bei seinem Nachnamen nennen.

Ich kenne den Opel Diplomat. Ich kenne ihn nicht so gut, wie ihn Wikipedia kennt, aber was kenne ich schon so gut wie Wikipedia? Die aufgelegte Frage ist aber eine andere: warum fällt mir der Opel Diplomat gerade jetzt, nach 55 Jahren, ein? Es hat was mit dem Ukraine-Konflikt zu tun. Genauer gesagt mit den diplomatischen Bemühungen des Olaf Scholz. Wie er so dagesessen ist, am urgemütlichen, weißen Besprechungstisch von Vladimir Putin, mit zusammengekniffenen Mund und einem versucht kalten Blick, der sagen sollte: „Wie Du Vladimir, so ich Vladidir“, da ist er mir wieder eingefallen, der Opel Diplomat. Ich weiß noch, wie ich dachte: „Olaf, Du bist mehr Opel als Diplomat.“ „Warum hast Du so gar nichts von dem eloquent plappernden Emmanuel Macron?“ spann ich meine Gedanken weiter. Denn eines ist in der an sich völlig verfahrenen Ukraine-Situation doch klar: solange man noch miteinander plappert, haut man sich nicht die Schädel ein.

Ich glaube es ja noch immer nicht. Ich glaube nicht, dass es Krieg gibt. Ich glaube, dass auch alle, die an diesem Zündel-Spiel freiwillig oder unfreiwillig teilnehmen, nicht wirklich daran glauben. Ich glaube auch nicht an den Satz, den alle Protagonisten vor sich hertragen: „Es ist 5 vor 12.“ Ich verstehe natürlich die Bedeutung des Satzes, aber was soll in den letzten fünf Minuten noch möglich sein, was stundenlang vorher nicht möglich gewesen ist. Dieser Satz soll uns glauben machen, dass man in 5 Minuten die Welt verändern kann oder zumindest den Lauf der Geschichte. Und weil dieser Satz schon so tief im Bewusstsein der Menschheit verankert ist, glauben wir, uns mit allem bis 5 vor 12 Zeit lassen zu können.

Es gibt übrigens Gewinner und Verlierer dieser berühmten 5 Minuten. Putin ist definitiv ein Gewinner. Egal wie spät es ist, stellt er weltweit die Uhren immer wieder auf 5 vor 12.

Und bitte bedenken Sie eines: es steht ja nicht nur der Ukraine-Konflikt 5 vor 12. Die Klimakatastrophe, der an der Pandemie sichtbar gewordene Verfall der Gesellschaft, die immer wieder nach hinten durchgereichte Flüchtlingsproblematik, die Übernahme der Autokraten, die Unüberbrückbarkeit zwischen West und Ost, zwischen arm und reich, zwischen links und rechts, zwischen puren Fakten und Verschwörungstheorien, der – von Claus Pàndi in seiner Kolumne „Retten, was zu retten ist“ beschriebene – Niedergang des Freiheitsbegriffs, der neuerdings für Gastro-Öffnungszeiten herhalten muss, das alles steht 5 vor 12.

Ich habe einen Moment überlegt, ob ich die durch Korruption bedingte völlige Pulverisierung des politischen Anstands der österreichischen Innenpolitik hinzufügen soll. Ich habe mich dagegen entschieden, denn da stehen die Zeiger bereits auf Punkt 12.

Und dann die EU. Die von uns allen auf den Schultern getragene EU. Was für ein Jammertal. Die EU (Europäische Uneinigkeit), die vor lauter Einzelinteressen nicht imstande ist, mit einer Zunge zu sprechen. Die EU (Eh Unfassbar), die sich von Russlands Gas abhängig gemacht hat. Die EU (Eigeninteressen Union), bei der das Ausmaß und die Strenge der angedrohten Sanktionen mit dem Quadrat der Entfernung zu Moskau abnimmt. Die EU, die von den USA schon halb fallengelassen ist. Die EU, die schon das Akkordieren des Pandemie-Managements verkackt (pardon!) hat, die soll sich jetzt aufraffen, eine unter allen Mitgliedsstaaten abgestimmte europäische Sicherheitsarchitektur aufzubauen?

Wenn das in den letzten 5 Minuten vor 12 möglich gemacht werden kann, soll es mir recht sein.

Leichte Zweifel befallen allerdings

Ihren Harry Bergmann

Sollte – bei Erscheinen dieser Kolumne – Putin noch weiter in die Ukraine eingefallen sein, als er es eh schon ist, vergessen Sie einfach den Text oben. Amateur!!


Dr. Harry Bergmann, Werbedilettant (gar nicht einmal so schlecht), Kolumnisten-Dilettant (na, ja…). Hat durch das Schreiben einige Freunde verloren, aber mehr gewonnen (glaubt er zumindest). Denkt seit einiger Zeit darüber nach, ob der Flug Wien – Tel Aviv ein Hinflug oder ein Rückflug ist.

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