Nein, es ist nicht normal!

Wie die Sehnsucht nach einer speziellen Art Normalität zum wichtigsten politischen Instrument unserer Zeit geworden ist

Harry Bergmann
am 29.07.2021

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Die Salzburger Festspiele werden als eröffnet erklärt. - FOTO: APA/HBF/PETER LECHNER

Die Rede war großartig. Wirklich großartig. Und ich dachte vorher: „Das wird jetzt sicher wieder so eine sedierende Geschichte über das und jenes, die sich quälend eintönig und verhaspelnd um den heißen Brei herumwuzeln wird.“

Habe ich jetzt gehört: „Haha, wie Deine Kolumnen.“?

Aber nein. Da stand dieser Professor, der sich als Volkswirt vorstellte, obwohl jeder, der ihn kennt, eigentlich davon ausgeht, dass er ein Volkshirt ist. Nein, nicht im klerikalen Sinn. Im demokratischen Sinn. Wir, die Behirteten, haben ihn gewählt, um genau das zu sein.

Also dieser Wirt oder Hirt hatte die Aufgabe die Salzburger Festspiele für eröffnet zu erklären. Das ist an sich nur ein Satz. Da dauert das Aufstehen, zum Rednerpult gehen, sich ein oder zweimal räuspern länger, als die ganze Amtshandlung. Aber dieser Professor, auf den ich in den letzten Monaten schon echt angefressen war, weil ich vergeblich auf ein politisches Lebenszeichen gewartet habe, dieser Professor zeigte, dass er noch Mumm in den Knochen und viel, viel Schmalz im Hirn hat. Eigentlich ist er diesen Sommer recht gut in Form gekommen. Die EURO? Wimbledon? Die Olympischen Spiele? Zum Aufwärmen für Salzburg hat er, um nur ein Beispiel zu nennen, einem Minister mit dem Verfassungs-Rohrstock schon eine Ziemliche auf die Finger geprackt, der Herr Professor.

Das erinnert mich an etwas, das schon viele Jahre zurückliegt. Die Abschiedsrede des damals Nur-Wirt-und-noch-kein-Hirt im Parlament. Austeilen kann er, der Herr Professor. Und dabei ganz unschuldig schauen und sogar ein bisserl lächeln, weil es ihm Spaß macht. Und wenn es ihm Spaß macht, dann macht es uns, den Bewirteten und Behirteten, auch Spaß, obwohl es wirklich kein Spaß ist. Er redet ja eigentlich gar nicht. Er „tut“ nur laut nachdenken. Und diesmal hat er über den Begriff Normalität laut nachgedacht.

Was er gemeint hat, war klar und wen er gemeint hat auch. So elegant, Herr Professor! Da macht es gar nichts, dass derjenige, der gemeint war, die Lehrstunde geschwänzt hat. Im Gegenteil.

Die Sehnsucht nach Normalität ist in Zeiten der Pandemie zurückgekehrt. Nach einer Normalität, die es gar nicht gibt. Einer Normalität, die von denen so definiert wird, dass sie nur denen schlussendlich nützt. Einer Normalität, die Gutes wie Ungeheuerliches, die Gerechtes wie auch zum Himmel stinkend Ungerechtes zu einem Brei zusammenkocht, bei dem man gar nicht mehr herausschmecken kann, was eigentlich normal ist und was nicht. Einer Normalität, die jeder Veränderung im Wege steht, weil sie vorgibt, ein erstrebenswerter Zustand zu sein. Einer Normalität, die in einer konservativen Gesellschaft wie der österreichischen immer nur dazu führt, dass etwas „immer schon so war“ und wir es „immer schon so gemacht haben“. In der Physik nennt man das „Trägheit der Masse“. Die Sehnsucht nach dieser Art Normalität ist vielleicht zum wichtigsten politischen Instrument unserer Zeit geworden. Wer seine oder ihre Normalität am überzeugendsten verkaufen kann, gewinnt die Macht. Wer die Normalität ständig in seinem oder ihrem Sinne umdefiniert, wird diese Macht auch erhalten.

Das alles spielt sich tagtäglich vor unseren Augen ab. Wir müssen diese Normalität bekämpfen, wo immer sie uns begegnet. Die Parteien, die in der Opposition sind, genügen nicht, wir alle müssen die Opposition sein. Herr Kickl, sie sind ausdrücklich nicht damit gemeint!

Rassismus darf nie zur Normalität werden. Antisemitismus darf nie zur Normalität werden …

Verzeihen Sie, aber ich muss mich an dieser Stelle kurz selbst unterbrechen. Ich habe vor ein paar Tagen das ZEIT-Magazin gelesen. Wenn Sie es nicht gelesen haben und es nachlesen wollen: es war das ZEIT-Magazin Nr. 29, hier finden Sie den Text digital. Sollten mich die Leute vom Falter jetzt fragen, wie ich dazukomme, einen Verweis auf ein konkurrierendes Medium zu machen, habe ich leider keine Antwort und schreibe deshalb jetzt einfach weiter.

Die Headline auf der Titelseite versprach nicht gerade leichte Sommerlektüre. Nicht gerade leichte Kost. Nicht gerade einen leichten Sommerspritzer. Sie lautete: „Muss man einen Hundertjährigen vor Gericht stellen?“

Es ging um die letzten Nazi-Kriegsverbrecher, deren man noch habhaft werden konnte oder kann. Und die Antwort lautet: ja. Oder etwas präziser: Man muss sie nicht einsperren, aber man muss ihnen den Prozess machen. Man muss Zeugen, wenn sie noch leben, die Gelegenheit geben, ihre Geschichte zu erzählen. Man muss sie verurteilen. Denn es darf nie, nie, nie zur Normalität werden.

Also noch einmal:

Rassismus darf nie zur Normalität werden. Antisemitismus darf nie zur Normalität werden. 50 Grad in Kanada dürfen nie zur Normalität werden. Unwetter, die zu grau-braunen Soßen führen, die sich durch Ortschaften durchwälzen und alles mitreißen, was im Weg steht, dürfen nie zur Normalität werden. Demokratische Institutionen zu unterhöhlen und sie zu verhöhnen, darf nie zur Normalität werden. Sich die Justiz Untertan zu machen, darf nie zur Normalität werden. Kinder in elenden Lagern nass und frierend dem Winter auszusetzen, darf nie zur Normalität werden. Extremismus und Terrorismus – egal aus welchem Eck – dürfen nie zur Normalität werden.

Wenn ich mich nicht verzählt habe, dann fällt in dieser Kolumne 23 Mal das Wort Normalität. Das ist echt quälend. Gut so.

Meint

Ihr Harry Bergmann


Dr. Harry Bergmann, Werbedilettant (gar nicht einmal so schlecht), Kolumnisten-Dilettant (na, ja…). Hat durch das Schreiben einige Freunde verloren, aber mehr gewonnen (glaubt er zumindest). Denkt seit einiger Zeit darüber nach, ob der Flug Wien – Tel Aviv ein Hinflug oder ein Rückflug ist.

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