Bin ich Hannah Arendt?

Über Nächte im Luftschutzkeller in Tel Aviv und warum die israelische Flagge am Bundeskanzleramt ein zweifelhaftes Geschenk ist

Harry Bergmann
am 17.05.2021

Abonnieren Sie Harry Bergmanns Loge 17:

Links: Beschuss aus Gaza; Rechts: Raketenabwehr aus Tel Aviv. Foto: Harry Bergmann

Ich habe das letzte Mal mit dem großen Bumms geendet und würde heute gern mit dem großen Rumms beginnen. Ich kann Ihnen die Frage „Was ist der Unterschied zwischen einem großen Bumms und einem großen Rumms?“ ziemlich präzise beantworten. Der Rumms ist wesentlich näher an der Zielperson dran, als der Bumms. Daher entsteht das stärkere Gefühl einer unmittelbaren, persönlichen Bedrohung.

Wenn ein schwerer Gegenstand, sagen wir eine Eisentraverse, neben Ihnen mit einem gewaltigen Rumms vom Dach zu Boden kracht, dann ist das einigermaßen verstörend, oder? Wenn dazu gleichzeitig eine über Kilometer hörbare Sirene losgeht, hat das auch keine wirklich beruhigende Wirkung, glauben Sie mir das.

Wenn alle Menschen in Ihrem Sichtfeld plötzlich in eine Richtung laufen, dann müssen Sie schon ein erstaunlich stoischer Stoiker sein, wenn Sie dabei Ihren Ruhepuls behalten.

Und wenn Ihnen dann noch dämmert, dass die Eisentraverse keine Eisentraverse ist, sondern ein Raketengruß von der Hamas oder ein von einer anderen Rakete getroffener Raketengruß der Hamas, dann ist im wahrsten Sinne des Wortes „Feuer am Dach“.

So geschehen am vergangenen Dienstag am Abend in einem Sushi-Lokal auf dem Rothschild Boulevard in Tel Aviv. Vorzügliche Sushi Rolls übrigens, aber das spielt dann in diesem Moment auch keine Rolle mehr. Endstation Luftschutzkeller. Von Sehnsucht keine Rede, von einem Gefühl der Geborgenheit auch nicht. Geräuschkulisse wie am Silvesterpfad am Stephansplatz, aber halt mit scharfer Munition. Hunderte Raketen wurden in dieser Nacht nach Israel abgeschossen. Ungefähr 150 davon in den Großraum Tel Aviv. Unzählige Male hörte man die Sirenen, die zwar immer gleich laut waren, aber doch immer drängender und bedrängender klangen. Dazu die Anti-Raketen-Raketen der IDF (Israel Defense Forces), die fast immer trafen, aber eben nur fast.

Seit diesem Dienstag immer wieder Sirenen, immer wieder der eine oder andere Rumms, immer wieder aus dem Auto aussteigen und sich flach auf den Boden legen, immer wieder in den Bunker (hebräisch: mamad, miklat).

Sie kennen das alles aus den Nachrichten. Sie brauchen also keinesfalls den Bericht eines – bisher nicht getroffenen – Betroffenen. Sie sitzen in Ihren gemütlichen Wohnzimmern und haben sich ohnehin schon Ihr Urteil gebildet. Meistens folgen Sie dabei dem gleichen Muster, egal auf welcher Seite Sie stehen. Die meisten von Ihnen stehen auf gar keiner Seite und folgen umso mehr dem gleichen Muster: „Es tun mir einfach alle gleich leid.“ Das kommt immer gut und verwandelt die eigene Ratlosigkeit und Ahnungslosigkeit in einen von allen akklamierten Humanismus.

Ich meine natürlich nicht Sie, sondern die.

Auch die Reaktion der Welt wird wieder einem ehernen Gesetz folgen. Wenige Staaten werden das Recht Israels auf Selbstverteidigung betonen, der überwiegende Teil aber wird in den üblichen Chor einstimmen „Das haben sich die Israelis selbst zuzuschreiben. Okkupation führt eben zu Aggression. Und egal, wie man angegriffen wird, muss bei der Vergeltung Angemessenheit bestehen.“

Die Judenhasser können jetzt fröhlich Kirtag feiern. Sie können endlich wieder demonstrieren. Halt, waren nicht viele davon erst unlängst auf Anti-Corona-Demos zu sehen? Mit der gleichen Detailkenntnis, mit der sie da unsere demokratischen Freiheiten verteidigt haben, stärken sie jetzt den Rücken der Islamisten, Jihadisten, Salafisten, Terroristen, Extremisten, denn die sind ja die wahren Opfer dieses imperialistischen Judenstaats.

Judenhass in der Verkleidung von Israel-Hass kann man übrigens auch lernen. In palästinensischen Schulbüchern wird zu Terroranschlägen aufgerufen und der „mörderische Jude“ angeprangert. „Der Stürmer“ auf arabisch. Nur das mit der semitischen Nase funktioniert nicht, denn die ist auf beiden Seiten des Zauns gleich.

Und während die Kleinen die Politpropaganda eingebläut bekommen, wird in derselben Schule von der Hamas eine Raketenabschussbasis installiert. Die Kinder sind der Schutz gegen israelische Gegenschläge. Man nennt das dann „human shields“. Sehr human. „Sag mir, wie Du mit dem Leben Deiner eigenen Kinder umgehst und ich sage Dir, wer Du wirklich bist!“

Natürlich bin ich befangen. Natürlich ist klar auf welcher Seite ich stehe. Ich liebe Israel. Aber es ist eine echte Liebe, weil es auch eine kritische Liebe ist.

Ich sehe sehr wohl den Araberhass der rassistischen Rechten oder gar Ultrarechten in Israel. Ich sehe, dass dieser Hass dort am schlimmsten ist, wo er auch noch religiös untermauert wird. Jeder Stein, auf dem irgendein Prophet gesessen ist, wird zum Ziel von Settlern mit ihren Wohnwägen. Ganz egal, wo dieser Stein ist, sei es auch mitten in einem arabischen Dorf. Hunderte junge israelische Soldaten – die damit nichts am Hut haben und von der Situation völlig überfordert sind – müssen zu deren Schutz abgestellt werden und schon beginnt sich die Gewaltspirale zu drehen. Ich sehe es und ich verachte es.

Vor einer Woche war Israel nur Tage davon entfernt, eine neue Regierung zu bekommen, die in meinen Augen eine historische Chance gewesen wäre, das Land zu heilen. Jetzt sind wir, durch die Raketen aus Gaza, wieder um ein paar Jahre zurückgeworfen. Aber so ist Demokratie. D-e-m-o-k-r-a-t-i-e!

Werden das der Großteil der internationalen Presse, die Regierungen, die selbst soviel Dreck am Stecken haben, dass ihnen die Sicht auf Alles verstellt ist, die antisemitischen Demonstranten, die Twitteranten, die jetzt schon mal ihre Messer gegen diesen Artikel wetzen dürfen, jemals verstehen?

Wird man jemals sagen dürfen, dass die israelische Fahne neben der österreichischen Fahne auf dem Dach des Bundeskanzleramts ein Danaergeschenk ist? Die beiden Flaggen symbolisieren nichts anderes als zwei Regierungschefs, die ihr jeweiliges Land spalten, die Seite an Seite, lieber die Justiz mit Füßen treten, als zurückzutreten. Leider ist man mit der Skepsis über das Flaggenpaar ständig in schlechter Gesellschaft.

„Nur Im Zusammen der Menschen in der gemeinsam gegebenen Welt kann sich die Existenz überhaupt entwickeln“, sagte Hannah Arendt. (DIE ZEIT, 6.5.2021). Aber bin ich Hannah Arendt, dass es mir zustehen würde, Ihnen das zu erklären?

Ihr Harry Bergmann


Dr. Harry Bergmann, Werbedilettant (gar nicht einmal so schlecht), Kolumnisten-Dilettant (na, ja…). Hat durch das Schreiben einige Freunde verloren, aber mehr gewonnen (glaubt er zumindest). Denkt seit einiger Zeit darüber nach, ob der Flug Wien – Tel Aviv ein Hinflug oder ein Rückflug ist.

Abonnieren Sie Harry Bergmanns Loge 17:

Weitere Ausgaben:
Alle Ausgaben der Loge17 finden Sie in der Übersicht.

12 Wochen FALTER um 2,50 € pro Ausgabe
Kritischer und unabhängiger Journalismus kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit einem Abonnement!