Die Gelassenen und die Alleingelassenen

Harry Bergmann vermutet lieber bei einem Schuldigen die Unschuld, als bei einem Unschuldigen die Schuld.

Harry Bergmann
am 18.04.2021

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Der Abgang des Gesundheitsministers | Foto: APA/ Roland Schlager

Ich bin nicht sicher, aber ich glaube, ich habe Ihnen das schon einmal erzählt. Wenn ja, unterbrechen Sie mich bitte gleich.

Es war vor etwa einem Jahr, als ein lieber Freund, der mich in allerbester Absicht davon abbringen wollte, regelmäßig Kolumnen zu schreiben, zu mir sagte: „Es gibt schon zu viele Kolumnisten, die glauben, sie müssten über etwas schreiben, worüber alle anderen schon geschrieben haben, nur sie selbst noch nicht.“ Ja, dachte ich, mag schon sein, aber was habe ich damit zu tun?

Am vergangenen Dienstag am Vormittag kam mir dieser Satz wieder in den Sinn, als ich beim Fernsehen beschloss, über das soeben Gesehene unbedingt etwas schreiben zu müssen, obwohl es völlig klar war, dass darüber alle – aber wirklich alle – schreiben würden.

Da stand dieser leicht vornübergebeugte Mann, der mit seiner mittlerweile landauf landab bekannten, sedierenden Stimme erklärte, dass er gleich nicht mehr das sein wird, was er noch war, bevor er angefangen hatte zu reden. Offensichtlich hatte er ein großes Problem damit, das nicht mehr zu sein, wenn er in wenigen Minuten aufgehört haben würde zu reden. Vielleicht sprach er auch deshalb noch langsamer als gewöhnlich und machte von Zeit zu Zeit Pausen, in denen er versuchte seine Haltung, die aus der Halterung gesprungen war, wiederzugewinnen. Es hat immer etwas Schmerzhaftes, wenn man einem Schmerzgeplagten beim Schmerzhaben zusieht. Auch dann, wenn man der Person gegenüber gemischte Gefühle hat. Oder gerade dann. Es tritt dann nämlich eine Art Trennungsschmerz ein. Man muss sich von der eigenen Ambivalenz trennen und sich entscheiden, wie man zu dieser Person wirklich steht. Positiv oder negativ. Empathisch oder ablehnend. Mitfühlend oder schadenfroh.

Ich habe mich jedenfalls entschieden: dieser Mann verdient meinen höchsten Respekt und bekommt ihn auch.

Nicht weil er erfolgreich war. Im Gegenteil.

Nicht weil er entscheidungsstark war. Im Gegenteil.

Nicht weil er die nötige Fortune hatte. Im Gegenteil.

Nicht weil ihm Eitelkeit fremd war. Im Gegenteil.

Nicht weil er am Tag so viele Pressekonferenzen, Pressegespräche, Radio-Interviews und TV-Interviews absolvierte, dass man sich fragen musste, wann er eigentlich Zeit zum Arbeiten gefunden hat. Im Gegenteil.

Nicht weil er so umsichtig delegieren konnte. Im Gegenteil.

Nicht weil er ein und dasselbe immer wieder mit immer dem gleichen Tonfall sagte. Im Gegenteil.

Nicht weil er zu den jeweils folgenden zwei Wochen eine geradezu ängstliche Beziehung hatte. Im Gegenteil.

Nicht einmal, weil er nie aufgehört hat sein Bestmögliches zu versuchen und damit seine eigene Gesundheit aufs Spiel gesetzt hat.

Nein, weil er allein war.

Alleingelassen von Freund und Feind. Wobei in dem Bereich, in dem er tätig war und in Zukunft nicht mehr tätig sein wird, kaum ein Unterschied zwischen Freund und Feind besteht. Wenn man ihn wenigstens völlig allein – also in Ruhe – gelassen hätte. Aber auch das war nicht der Fall. Er war wie der Bub, den man die Kappe vom Kopf reißt und der dann von der ganzen Klasse im Kreis geschickt wird, besonders von den Gelassenen, den Lässigen, den Coolen, den Unverfrorenen, denen nichts passieren kann, egal was passiert, weil sie an alles gedacht haben. Stets fand sich eine Seife, auf die man ihn steigen lassen konnte. Stets eine Schuld, die man auf ihn schieben konnte. Stets ein Blitz, den man durch ihn ableiten konnte. Stets ein Lachen, das man auf seine Kosten haben konnte. Stets eine Info, die alle hatten, nur er nicht. Wenn der Lehrer kommt, wissen diese Gelassenen von nichts, haben alles vergessen oder lügen ungeniert. Abgestraft wird der Ohne-Kappe-im-Kreis-Renner.

Aber was wissen wir schon, wir Einfachen, wenn wir so vor dem Fernseher sitzen, und zusehen, wie ein Mächtiger gerade seine geborgte Macht verliert, die er glaubte nie wieder zurückgeben zu müssen. Vielleicht ist es ja ganz anders. Vielleicht ist es genau umgekehrt. Vielleicht ist er der Alleinlasser und wir alle, die Alleingelassenen. Wir, die Herde, die seit Monaten führungs- und kopflos herumrennt. Verzweifelt auf der Suche nach Herdenimmunität. Die Herde, die schon längst zur Horde geworden ist.

Trotzdem. Auch wenn ich weiß, dass viele das absolut nicht so sehen, ich nehme ihm ab, was er gesagt hat. Ich vermute lieber bei einem Schuldigen die Unschuld, als bei einem Unschuldigen die Schuld.

Apropos „alleingelassen“: ich werde Sie für eine gewisse Zeit alleinlassen müssen. Wenn Sie die Kolumne bis zu diesem Punkt gelesen haben, bin ich schon auf dem Weg nach Israel. Wenn Sie die Kolumne nicht bis hierher gelesen haben, bin ich dennoch auf dem Weg nach Israel. Israel, eine meiner zwei „Heimaten“. Gibt es eigentlich einen Plural von Heimat? Ich meine das sowohl grammatikalisch, als auch inhaltlich. Ich war seit 16 Monaten nicht in dieser Heimat. Für einen Ort, an dem ich normalerweise fast die Hälfte des Jahres verbringe, eine Ewigkeit. Aber was ist heutzutage schon normalerweise?

Aber keine Angst (oder freuen Sie sich nicht zu früh), ich kann ja auch dort schreiben. Vielleicht über dort.

Ihr Harry Bergmann


Dr. Harry Bergmann, kein Studienabbrecher, aber in der Werbung dennoch Autodidakt. Seit 2 Jahren nicht mehr in der Werbung, aber schon wieder Autodidakt. Diesmal beim Schreiben. Lebt in Wien und in Israel, außer es ist gerade in einem der beiden Länder ein Lockdown.

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