Traum und Wirklichkeit

Wenn einem Demonstrationen bis in den Schlaf und sogar bis in den Tag danach verfolgen.

Harry Bergmann
am 10.03.2021

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Old Bailey Microcosm | Thomas Rowlandson and Augustus Pugin | Wiki Commons

Ich hatte heute einen Traum. Ich war mitten in einer Gerichtsverhandlung. Aber es war keine richtige Gerichtsverhandlung. Erstens schrien alle durcheinander, und zweitens wechselten ständig die Rollen. Der Zeuge war plötzlich der Angeklagte. Der Verteidiger hielt das Plädoyer des Staatsanwalts. Der Staatsanwalt nahm jemanden aus den Besucherreihen ins Kreuzverhör. Eine Dame, die gerade erst gekommen war und nicht wissen konnte, was bisher geschah, setzte sich auf den Richterstuhl und schlug mit dem Hammer wild um sich. Der ursprüngliche Angeklagte – also nicht der Zeuge, der zum Angeklagten wurde – grinste, weil es plötzlich gar nicht mehr um ihn ging. Die Berichterstatter schauten sich erstaunt an und wussten nicht, wie ihnen geschieht, geschweige denn, was sie von diesem Tohuwabohu berichten sollten.

Kennen Sie das, wenn man im Traum anfängt, über den Traum nachzudenken? Ich dachte: „Was mach ich eigentlich in dieser Gerichtsverhandlung?“ Dieser an sich berechtigte Gedanke wurde aber vom Traum sofort bestraft. Ich war nämlich jetzt der Angeklagte. Ich erkannte die Gesichter einiger Zeugen, die meinten, ich könne unmöglich ein Täter sein. Ich bin ein ehrlicher, anständiger Kerl, manchmal zur Geschwätzigkeit neigend, aber im Prinzip okay. Dann erschien meine Mutter, die dem Gericht vom Holocaust erzählte, um damit meine Tat zu rechtfertigen oder um Milde zu bitten oder beides.

Sie tat mir so leid, aber ich war auch verärgert, weil sie mit dem, was dieses Gericht mit Sicherheit als „Ausschwitzkeule“ empfand, meine missliche Lage nur verschlimmerte. Die Tatsache, dass sie mich in Israel zur Welt gebracht hat, würde in dieser Welt sowieso gegen mich sprechen.

Vor dem Gerichtsgebäude wurde die Menge immer größer, immer aggressiver. Plötzlich kamen aus einem nahen Wald eine große Gruppe von Radfahrern, die riefen „Alerta, Alerta, Antifascista“. Die beiden Gruppen stießen aufeinander. Geschrei und immer mehr Geschrei, Sirenen und immer mehr Sirenen, Blaulicht und immer mehr Blaulicht.

Der Lärm und das grelle Licht weckten mich unsanft auf. Ich war verwirrt und versuchte das soeben Geträumte einzuordnen. Das war, zugegebenermaßen, nicht sehr schwer, denn es war mehr oder weniger die Wirklichkeit des Vortags.

Ich bin nämlich in die gnadenlose, und gnadenlos egozentrische, Twitter-Gerichtsbarkeit gefallen. Ich begann als Ohren- und Augenzeuge und endete auf der Anklagebank. Was war passiert? Ich war am Samstag am Nachmittag mit Sohn (35), Schwiegertocher (30) und Hund (1) im Prater unterwegs. An sich schon eine vertrottelte Idee. Gegen 15:00 standen wir an genau jener Kreuzung in der Hauptallee, wo die Rechten und die Linken und die Polizei – zwischen ihnen – ein eher ungenießbares Sandwich bildeten.

Die Rechten zu Fuß, die Linken auf ihren Fahrrädern, was nur anfänglich wie ein Vorteil aussah, weil es auf der Kreuzung ohnehin kein Weiterbewegen gab. Infernalischer Lärm. Vor allem für einen, der Menschenansammlungen auch schon vor Corona mied wie die Pest. Dieser durch die Hauptallee fliegende Geräuschteppich verlor an und ab ein paar herunterfallende Ton-Fransen. Die Fransen, die bei uns niedergingen, waren irgendeine Anti-Israel-Scheiße im Vordergrund (von 3 bis 4 Helden, die ja oder nein, Linke oder als Linke verkleidete Rechte, oder einfach idiotische Krakeeler, auf jeden Fall aber auf Fahrrädern sitzende) und Antifascista-Rufe im Hintergrund. Auf wievielen Tonspuren sich das abgespielt hat, wollen jetzt die militanten Antifaschisten von einem pazifistischen Antifaschisten, nämlich mir, wissen. Und bevor sie das nicht verbal aus mir herausgeprügelt haben, werden ihre tiefroten Seelen nicht ruhen. Meine Antwort, dass sich im Ohr alles zusammenmischt, werden sie nicht akzeptieren.

Auch gut. Ich habe auf jeden Fall meine Lektion gelernt. Ich werde das nächste Mal aufmerksamer die Nachrichten verfolgen, bevor ich in den Prater spazieren gehe. Ich werde eine Wahrnehmung nicht als Tatbestand schildern. Ich werde meine Kolumnen mit einem Hinweis versehen „Achtung! Das ist ein Meinungsartikel, der sich blumiger Sprache und Stimmungsbilder bedient!“. Ich werde nie mehr einen Artikel gegen rechts schreiben, wenn ich nicht von ganz links eine aufgelegt bekommen möchte.

Meine linken Freunde – ich meine damit nicht die links-linken, neuen Feinde – sollten aber auch eine Lektion gelernt haben. Der antizionistische Schmutz, der sich an einigen Stellen im eigenen Stall ausgebreitet hat, sollte auch dort unbedingt gekehrt werden.

Liebe Leserinnen und Leser meiner Kolumne! Es tut mir leid, dass ich Sie heute in eine sehr persönliche Sache hineingezogen habe. Und ich möchte Sie nur wissen lassen, dass ich keine Sekunde daran gezweifelt habe, dass Sie auf meiner Seite stehen.

Ihr Harry Bergmann

Dr. Harry Bergmann, kein Studienabbrecher, aber in der Werbung dennoch Autodidakt. Seit 2 Jahren nicht mehr in der Werbung, aber schon wieder Autodidakt. Diesmal beim Schreiben. Lebt in Wien und in Israel, außer es ist gerade in einem der beiden Länder ein Lockdown.

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