Ein Land mutiert

Wir haben Angst vor Virus-Mutationen und sind selbst die schlimmsten Mutanten

Harry Bergmann
am 02.03.2021

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Visualisierung: Fusion Medical Animation

Wenn Sie diese Kolumne regelmäßig lesen – an dieser Stelle herzlichen Dank dafür – dann kennen Sie meine kindliche Begeisterung für Spiele. Ich glaube nämlich, dass jedes Spiel auch Ernst ist. Dass es den Charakter stärkt. Dass man lernt, nicht vermeintliche Schwächen korrigieren zu müssen, sondern seine Stärken auszuspielen. Mit Spielen kann man lachend die ganze Welt erklären. Herrlich.

Reden wir deshalb kurz über „Alles, was Flügel hat, fliegt“. Ein Spiel, das uns für kurze Zeit die Illusion gibt, frei wie ein Vogel, der Lockdown-Depression entfliehen zu können. Aber auch ein Spiel, das Sie nie und nimmer mit kleinen Kindern spielen sollten. Die wollen und wollen nicht aufhören und Sie müssen nach zwei Stunden mit zwei gebrochenen Zeigefingern in die Unfallambulanz. Da Sie sicher nicht geimpft sind (sonst wären Sie entweder Richard Lugner oder hätten gerade mit Ihrem Ur-Urenkerl gespielt) und sich, mit den gebrochenen Fingern nur unter Schmerzen die FFP2-Maske anziehen können, ist der Gang in ein Spital zu Corona-Zeiten nicht anzuraten.

Außerdem haben wir bald wieder eine 7-Tage-Inzidenz von 200. Die Inzidenz zeigt, was die wenigsten wissen, auch die in Metern ausgedrückte Minimaldistanz, die Sie zu einer Krankenhauseinrichtung einhalten sollten. Sie würden sonst – gerade in den „entscheidenden nächsten zwei Wochen“ – zu einer Überlastung des Gesundheitssystems beitragen und von Politikern aller Couleurs mehrmals am Tag als jener Patient öffentlich an den Pranger gestellt werden, vor dem man seit Monaten gewarnt hat: der letzte Tropf, der das Kapazitätsfass zum Überlaufen gebracht hat.

Spielen Sie doch lieber „Alles, was mutieren kann, mutiert.“ Sie werden draufkommen, dass praktisch alles und jeder mutieren kann. Manchmal zum Guten, viel öfter aber zum Schlechten. Ja, und genau deshalb ist es gar kein Spiel, sondern gelebte, zum Teil bittere Realität.

Ich will gar nicht mehr über die diversen Virus-Mutationen reden. Denn kaum hat man alle aufgezählt, schon kommt eine neue dazu. Dass irgendwelche Bürgermeister, die sich beim Impfen vorgedrängelt haben, wie seinerzeit Trump beim Fototermin während des Nato-Gipfels, jetzt Panikattacken haben, weil sie vielleicht gar nicht voll immunisiert sind, ist nur der schwache Trost und die Schadenfreude eines Nicht-Geimpften.

Geht es nur mir so? Ich spüre oder glaube zu spüren, dass das ganze Land mutiert. Und je mehr es mutiert, desto mehr erodiert. Der Respekt erodiert. Die Anständigkeit erodiert. Das Vertrauen erodiert. Der Konsens erodiert. Der Zusammenhalt erodiert. Die Ordnung erodiert.

Insbesondere das Niemandsland zwischen Politik, Wirtschaft und Justiz versumpft. Zu viele Hände waschen zu viele Hände und es ist nicht aus Hygienegründen, im Gegenteil.

Die Politik, die ihre Vorverurteilung beweint, aber selbst bei jeder Gelegenheit die Justiz desavouiert. Die Justiz, die von der Politik an die Wand gedrückt, im Graubereich zwischen Notwehr und unverhältnismäßiger Aggression agiert. Wirtschaftskapitäne, die einen Eisberg nach dem anderen rammen, aber – beschützt von der Politik – ihren Kurs unbeirrt weiterfahren dürfen. Und über allem die zu Tode geschundene Unschuldsvermutung, deren bloße Erwähnung schon der blanke Hohn ist.

Wie sind wir dorthin geraten? Ist alles in so kleinen und unmerklichen Schritten passiert, dass wir es erst bemerkt haben, als es schon zu spät war? Haben wir es überhaupt schon bemerkt?

Wir fürchten uns vor viralen Mutationen und sind selbst die schlimmsten Mutanten. Was hat man nicht alles prognostiziert, wie die Gesellschaft und jeder einzelne an der Pandemie wachsen wird. Wir werden solidarischer, empathischer, hilfsbereiter sein. Wir werden verstehen, dass man nur gemeinsam aus der Krise herauskommt. Nichts davon. Wir stecken bis zum Hals in der Scheiße und jeder macht den anderen dafür verantwortlich.

Wir beten die Digitalisierung („Sie wird bleiben!“) und die künstliche Intelligenz an, dabei funktionieren nicht einmal die einfachsten Handgriffe. Nicht einmal bei BILLA regiert noch der Hausverstand. Die paradoxe Krisen-Intervention ist das Gebot der Stunde: wenn die Infektionszahlen steigen, dann lockern wir die Corona-Maßnahmen. Andere mögen ihre Vor- und Nachdenker haben, wir haben den Lieben Augustin, der angesoffen in die Pestgrube fällt und – dulijö – unbeschadet wieder herauskommt.

Die Kolumne hat vielleicht zu spielerisch begonnen und zu dystopisch geendet. Da ich Sie aber als regelmäßigen Leser nicht verlieren will, versuche ich noch zu einem hoffnungsvollen Ende zu kommen. Wie wäre es mit einer Initiative, die es sich zum Ziel setzt, die unbeherrschbare Komplexität unseres derzeitigen Lebens zu beseitigen und Altbewährtes wieder einzuführen. Das Motto: Zurück zur Milchmädchenrechnung.

Es lebe der Musikantenstadl, äh… Mutantenstadl!

Ihr Harry Bergmann


Dr. Harry Bergmann, kein Studienabbrecher, aber in der Werbung dennoch Autodidakt. Seit 2 Jahren nicht mehr in der Werbung, aber schon wieder Autodidakt. Diesmal beim Schreiben. Lebt in Wien und in Israel, außer es ist gerade in einem der beiden Länder ein Lockdown.

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