Aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Aber abgeschoben ist abgeschoben.

Warum der Herr Bundeskanzler keine Albträume hat

Harry Bergmann
am 29.01.2021

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Einsatzwägen bei der Abschiebeaktion in Wien | Foto: Florian Klenk

Gestern habe ich auf Twitter geschrieben: „Lieber Herr Bundeskanzler, eines Tages werden die abgeschobenen Kinder zurückkommen. In Form einer Wahlniederlage.“

Kaum geschrieben ist mir der bessere Text eingefallen: „Lieber Herr Bundeskanzler, eines Tages werden die abgeschobenen Kinder zurückkommen und sie werden aussehen, wie eine große Wahlniederlage.“

Egal. Es ist – im Sinne von Wittgenstein – das eine so bezweifelbar, wie das andere.

Erstens ist der Herr Bundeskanzler kein lieber Herr Bundeskanzler. Das hat er schon mehrfach unter Beweis gestellt.

Zweitens werden die Kinder einen Teufel tun hierher zurückzukommen. Jetzt könnte ich natürlich einwenden, dass das Zurückkommen metaphorisch gemeint ist. Zum Beispiel, als Albtraum. Aber der Herr Bundeskanzler hat keine Albträume. Warum sollte er auch?

Als Kandidat eines Schwiegersohn-Tests wäre er ein absoluter Volltreffer: jung, fesch und erfolgreich.

Er hat das Grün nicht hinter den Ohren, sondern treibt es vor sich her. Wenn er von Merkel, Macron & Co. spricht, dann spricht er von „den anderen Staatschefs“. Wenn man Ihn fragt, wie er es mit der Verfassung hält, dann wird er höflich antworten: „Danke der Nachfrage, meine Verfassung ist ausgezeichnet.“ Wenn man ihn anfleht, Milde walten zu lassen, weil es um das Schicksal unschuldiger Kinder geht, wird er entgegnen: „Ich habe keine Kinder. Ich weiß nicht, wovon Sie reden. Wenden Sie sich an meinen Innenminister. Der hat Kinder.“

Warum also von überschwemmten Zelten oder grellem Blaulicht oder weggezerrten Kindern träumen?

Nur die Wahlniederlage, die ich prophezeit habe, die wäre natürlich schon ein Grund, mitten in der Nacht, schweißgebadet aufzuwachen. Aber wird es sie in absehbarer Zeit geben?

Wir wissen, dass der Herr Bundeskanzler sich akribisch an die Meinungsforschung hält. Wenn die Bevölkerung sich mehrheitlich für das eine oder andere ausspricht, dann wird im Bundeskanzleramt genauso entschieden. Skrupel? Lächerlich. Menschlichkeit? Hängt davon ab, um welche Menschen es geht. Weitblick? Eben nur bis dorthin, wo es noch verlässliche Zahlen gibt. Bigotterie? Jederzeit und jederzeit gerne.

Aber halt! Wenn der Bundeskanzler nur das macht, was wir mehrheitlich denken, dann ist es ja nicht er. Nicht wir sind so, weil er so ist, sondern er ist so, weil wir so sind. Sie werden jetzt sagen, dass sind nicht „wir“, das sind „die“. Das haben wir in dieser Kolumne aber schon öfter besprochen: eine Gesellschaft ist kein Regenwurm, den man teilen kann, wie man will und er lebt trotzdem weiter. Da müssen „wir“ schon darum kämpfen, um „die“ auf unsere Seite zu bringen. Mühsam, aber anders geht es nicht.

Alles, was wir von der Politik erwarten dürfen, ist, dass sie uns das nicht auch noch erschwert.

Weil ich auf Twitter nicht nur schreibe, sondern auch lese, will ich Ihnen nicht vorenthalten, was mir der Autor und Verleger Lojze Wieser geantwortet hat: „Die Frage müsste doch eher heißen: was muss man wie tun, um die Verhältnisse zu ändern? Nur hinhauen und ständig altbekanntes wiederholen, hilft am Ende zu erhalten, was ist.“

Auf meinen kleinlauten Einwand, dass es doch eh so viele kluge und anständige Menschen gibt, die täglich gegen Windmühlen kämpfen: „Ich fürchte, dass derzeit derer zu viele unterwegs sind mit geringer Aussagekraft. Nur (berechtigt) Frust rauszulassen wird es nur noch schlimmer machen. Es wird Zeit, für die nichtbeantworteten Fragen endlich brauchbare Ansätze zu finden, die aus den vielen Sackgassen herausführen.“

Streng, aber richtig.

Ich, für meinen Teil, schreibe jetzt an jemanden, dessen Aussagekraft mit Sicherheit großes Gewicht hat, einen kurzen Brief:

Lieber Herr Bundespräsident,

sie kennen mich und meine Kolumne sicher nicht und werden diese Zeilen wohl nie lesen. Aber ich kenne Sie. Ich kenne Sie als aufrichtigen, empathischen, integeren Mann und ich wüsste keinen Besseren, der dieses hohe Amt bekleiden sollte. Wie tausende andere auch, habe ich Ihre Worte zum Abschieben der Kinder gehört. Wie tausende andere auch, habe ich Ihre ehrliche Betroffenheit und die Scham gespürt.

Aber Worte sind nicht mehr genug.

Ich bitte Sie, Ihr ganzes „moralisches Gewicht“ einzusetzen und die Kinder zurückzuholen. Wir alle, die nicht so sind, stehen hinter Ihnen.

Sie schaffen das.

Liebe Grüße,

Harry Bergmann


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