Einfach nur so

Dass diese Kolumne heute erscheint, verdanke ich der Roten Armee, die am 27. Jänner 1945 Auschwitz befreit hat

Harry Bergmann
am 26.01.2021

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Ein Judenstern aufgenommen am Donnerstag, 5. März 2020, im Heeresgeschichtlichen Museum (HGM) in Wien. FOTO: APA/Herbert Neubauer

Heute ist der 27. Jänner. Das bedeutet den meisten nichts. Mir aber sehr viel. Am 27. Jänner 1945 befreiten Soldaten der Roten Armee die Konzentrationslager von Auschwitz. Wenn meine Eltern nicht zu den paar tausend Überlebenden gehört hätten, sondern zu den über eine Million Vergasten, Erschossenen, zu Tode Gefolterten, Verhungerten dieser Vernichtungsfabrik, dann würde heute diese Kolumne von mir nicht online gehen.

Sie haben recht: es gibt größere Probleme.

Der Auslöser für das heutige Thema, das mich mein ganzes Leben begleitet – um nicht zu sagen verfolgt – hat, ist nicht nur dieses Datum, sondern der Antisemitismus-Report, der dieser Tage von Vizekanzler Kogler, der Bundesministerin Edtstadler und dem Präsidenten der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, Oskar Deutsch, präsentiert wurde. Zwei angeblich Nicht-Geimpfte, ein Geimpfter.

Dieser Bericht, der im vollen Wortlaut „Nationale Strategie gegen Antisemitismus“ heißt, will sich also nicht damit begnügen aufzuzeigen, was ist, sondern was dagegen geschehen soll. So gibt es zumindest der Titel vor. In Zeiten, in denen wir mit reiner Ankündigungspolitik überhäuft werden, ist vorsichtige Skepsis nicht ganz von der Hand zu weisen.

Insbesondere, weil die heute tonangebende Partei bei den Wahlen im Jahre 2017 unter anderem auch durch die Bedienung von antisemitischen Clichés („Wir wollen diese Silbersteins in Österreich nicht“) überhaupt erst tonangebend wurde. Dass diese Wahl dann auch noch in einer Koalition mit einer rechts-rechten Partei endete, löst die Skepsis nicht gerade in gesunde Luft auf.

Ich will mich hier nicht zum Antisemitismus-Experten aufspielen. Ich bin es nicht. Ich bin wohl auch nur ein durchschnittlicher Antisemitismus-Leidtragender, was meine eigene Person betrifft. Ich meine das gar nicht zynisch, aber die Vernichtung meiner vier Großeltern ist, schrecklicherweise, nicht einmal was Außergewöhnliches für Kinder von Holocaust-Überlebenden. Ehrlich gesagt, meine ich es doch zynisch. Und ja, ich habe diesen Report mit all meinen Vorurteilen gelesen, und ich möchte doch ein paar Gedanken dazu mit Ihnen teilen, auch wenn Sie sie vielleicht nicht teilen können.

Ich lese: „In Zeiten der Pandemie breiten sich antisemitische Verschwörungserzählungen besonders rasch aus.“

Warum eigentlich?

Sind die Juden schuld an der Pandemie? Ich dachte, das seien die Chinesen, oder die Briten, oder diejenigen, die mit Autos kommen.

Haben es sich die Juden wieder einmal gerichtet? Haben sie sich Corona-Immunität gekauft? Ich lasse das am Besten vom Kaufmann von Venedig beantworten: „Wenn Ihr uns stecht, bluten wir nicht? Wenn Ihr uns kitzelt, lachen wir nicht? Wenn Ihr uns vergiftet, sterben wir nicht?“

Die Wahrheit ist, der Antisemit braucht keinen Grund, Antisemit zu sein. Er braucht nicht einmal Juden dazu.

Die Recherche von hunderten antisemitischen Vorfällen ergab folgendes Bild der ideologischen Hintergründe: 4% links, 6% muslimisch, 41% nicht zuordenbar, 49% rechts.

Wenn wir die Rechten links liegen lassen und nur auf die 41% Nicht-Zuordenbaren schauen, könnte man sich doch folgenden Dialog vorstellen:

„Warum sind Sie eigentlich Antisemit?“

„Weiß nicht. Einfach nur so.“

Mag sein, dass das etwas polemisch ist, aber warum soll man den Antisemiten die Polemik ganz allein überlassen?

Ich war in meiner Mittelschulzeit der einzige Jude in der Schule. Ein Unikum. In all den acht Jahren kannte ich keine Furcht vor den unverhohlen antisemitischen Mitschülern. Da gab es einige. Ich wusste, woran ich war und musste halt „nur“ dafür sorgen, dass auch sie wussten, woran sie mit mir waren. Anders mit den Verhohlenen. Da gab es einige mehr. Ich spürte, dass da etwas Ungreifbares und Unbegreifbares ist, und das machte mir Angst.

„Jüdisches Leben soll sich frei von Angst und Bedrohung entfalten können“, sagt die Strategie der Bundesregierung. Zahlen sagen etwas anderes. In 12 EU-Mitgliedsstaaten wurden Jüdinnen und Juden befragt, ob für sie Antisemitismus im eigenen Land ein Problem darstellt. 85 Prozent (!) antworteten mit „ein sehr großes Problem“ oder „ein ziemlich großes Problem“. Werden doch nicht alle Paranoiker gewesen sein?

Nach der Schule, als ich älter und älter wurde, habe ich meine Antisemitismus-Alarmanlage auf feine Zwischentöne eingestellt. Sie springt schon an, wenn jemand, der gerade erfährt, dass ich Jude bin, stutzt und leicht erschrocken sagt: „Oh, das habe ich nicht gewusst!“. Können Sie sich vorstellen, dass jemand, der Ihre Blutgruppe erfährt, sagt: „Oh, das habe ich nicht gewusst!“.

Einer meiner Lieblinge ist: „Sie sehen gar nicht so aus.“ Abgesehen davon, dass es nicht stimmt, erinnert es mich an eine nette Geschichte. Ältere Dame und junger Mann sitzen in einem Zugsabteil. Sie: „Are you jewish?“. Das fragt sie nicht einmal, sondern gezählte sechsmal. Endlich antwortet der junge Mann genervt: „Yes, I am.“ Sie: „Funny, you don‘t look it.“

Bei einer Sache stehe ich allerdings an, vielleicht könnten Sie mir da weiterhelfen. Was haben die Juden mit der Maskenpflicht und den Abstandsregeln zu tun? Ich frage wegen der diesbezüglichen Transparente und der vielen gelben Judensterne auf den Anti-Corona-Demos.

Ihr Harry Bergmann

PS: Arik Brauer ist tot. Ein Holocaust-Überlebender, ein Großer ist in seine „zweite Ewigkeit“ gegangen.

Dr. Harry Bergmann, kein Studienabbrecher, aber in der Werbung dennoch Autodidakt. Seit 2 Jahren nicht mehr in der Werbung, aber schon wieder Autodidakt. Diesmal beim Schreiben. Lebt in Wien und in Israel, außer es ist gerade in einem der beiden Länder ein Lockdown.


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