Wer ist „wir“?

„So sind wir nicht!“ tönt es jenseits und diesseits des Atlantiks. Was aber, wenn wir doch so sind?

Harry Bergmann
am 09.01.2021

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Foto: Joshua Sukoff | Unsplash

„So sind wir nicht!“ Je öfter dieser Satz gesagt wird, desto weniger stimmt er. Es spielt auch keine Rolle, in welche Inszenierung er eingebettet ist, ob grimmig-sinister, wie bei Joe Biden oder mehr Kasperl-erklärt-Pezi-mäßig, wie bei unserem lieben Herrn Bundespräsidenten.

Ein Satz wie ein Mühlstein. Er sollte uns erheben, zieht uns aber hinunter, weil er uns erkennen lässt, wie tief wir eigentlich gesunken sind. Wir, die Welt. Wir, die Menschen. Wir, die Gesellschaft.

Es muss ja zuerst etwas passieren, damit der Satz überhaupt ausgesprochen wird. Etwas, von dem wir uns distanzieren, das wir von uns wegschieben wollen. Aber wo schieben wir es hin? Es landet ja doch wieder bei uns. Denn „wir“ ist in Wahrheit nicht teilbar, auch wenn wir es noch so gerne und immer wieder versuchen. Wenn wir nicht so sind, wer ist dann so? Und wer bestimmt, wer die sind, die nicht so sind und die, die eben ja so sind? Wer garantiert uns, dass die Trennung immer eine humane, eine gerechte ist und sein wird, wo wir doch aus der Geschichte wissen, wie abscheulich der Trennungsstrich sein kann, wenn er von den falschen Menschen gezogen wird.

Wir sind nämlich nicht nur die manchmal-ein-wenig-zu-selbstgerechten Gerechten, die mehr-oder-weniger–Gutmeinenden, die Ehrlichkeit-zum-Prinzip-Erhebenden, die Immer-schon-hier-Gewesenen, die die-religiöse-Mehrheit-Vertretenden, die Amtssprache-Sprechenden, die einem-ordentlichen-Beruf-Nachgehenden, die Empathie-Ausströmenden, die Solidarität-nicht-nur-vor-sich-Hertragenden, die Nicht-das-Virus-Einschleppenden, die hilfsbereit-zur-Verfügung-Stehenden, die Eigenverantwortlichkeit-Verstehenden, sondern eben auch alle, die das nicht oder halt nicht ganz sind. Also wir alle.

Mittwoch am Abend saßen wir vor dem Fernseher und konnten nicht glauben, was wir sahen. Zumindest haben wir gesagt, dass wir es nicht glauben konnten. Aber warum konnten wir es eigentlich nicht glauben?

Gehen wir kurz in den April 2020 zurück. In Michigan ziehen bis auf die Zähne bewaffnete Demonstranten vor das Capitol des Bundesstaates. Sie protestieren gegen die geplante Verlängerung eines Lockdowns. Die Polizei erlaubt sogar ein paar Demonstranten (bewaffnet!) das Betreten des Regierungsgebäudes.

Jetzt muss ich mir leider selbst ins Wort fallen. Apropos Polizei: als ich am Mittwoch die weißen Hooligans die Mauern des Capitols hinaufklettern sah, dachte ich mir, was passieren würde, wenn das eine Black-Lives-Matter Demo wäre. Die Demonstranten wären heruntergeschossen worden wie Tontauben. Das ist die eigentliche amerikanische Tragödie dieses 6. Jänner.

Bleiben wir aber noch kurz in Michigan. Die demokratische Gouverneurin Gretchen Whitmer sollte von einer rechtsradikalen Miliz entführt und wegen „Verrats“ angeklagt werden. Das Ganze flog auf, und etwa ein Dutzend Männer wurden verhaftet und vor Gericht gestellt. Übrigens, der „Verrat“ der Gouverneurin bestand in einigen strengeren Corona-Beschränkungen, die sie erlassen hatte. Und Trump? Er attackierte Whitmer immer und immer wieder. „Befreit Michigan!“, lautete eine Twitter-Botschaft, mit der Trump die Proteste befeuerte.

Haben wir das oder ähnliches vergessen, als wir am Mittwoch mit offenem Mund vor den CNN-Nachrichten saßen? Oder wollten wir es vergessen haben? So, wie wir alles schnell vergessen, was das fragile Gleichgewicht unserer Gesellschaft stören könnte. Wir werden auch die Pandemie schnell vergessen haben – zumindest die Versprechungen, Gelübde, Vorsätze, die wir in dieser tunnelfinsteren Zeit gemacht haben – sollten wir in diesem Leben noch zu einer Impfung kommen. Also doch nicht.

Bis auf einige wenige Zufälle passiert nichts zufällig. Um das zu sagen, muss man kein großer Historiker sein. Alles hat einen Anfang und ein daraus abgeleitetes, zwangsläufiges Ende. Die Trump-Amtszeit ist keine Ausnahme. Wenn es also darum gehen soll, wie wir den Beschwörungs-Satz „So sind wir nicht!“ in Zukunft vermeiden können, weil wir tatsächlich nicht so sind, dann müssen wir an den Trump-Anfang zurück und lernen.

Da wäre einmal das Lügen, das immer weitere Lügen produziert. Das verächtliche Reden. Das Bauen von Mauern, das Sperren von Routen, um sich Ungebetene vom Leib zu halten.

Ich muss mich schon wieder unterbrechen, aber der Witz ist gut: die Mexikaner haben sich entschlossen, die Mauer doch zu bezahlen und Kanada möchte auch eine.

Also wieder von vorne:

Da wäre einmal das Lügen, das immer weitere Lügen produziert. Das verächtliche Reden. Das Bauen von Mauern, das Sperren von Routen, um sich Ungebetene vom Leib zu halten.

Und wieder das Lügen. Die Geringschätzung von Regeln und staatlichen Institutionen. Das Vergessen und Verschweigen von Dingen, die nicht zu vergessen und zu verschweigen sind. Das Misstrauen gegenüber der Wissenschaft. Die Schuld auf alle anderen zu schieben. Sich niemals für etwas zu entschuldigen. Die eigene Partei in Geiselhaft zu nehmen. Das Kategorisieren von Medien in willfährige und widerspenstige. Das Aushöhlen der Justiz. Und wieder das Lügen. Das Aufweichen der Verfassung. Das Wegpressekonferieren von Problemen. Das permanente Wahlkämpfen ohne Wahl. Die Egomanie. Das „Strecken“ der Demokratie.

Das zwangsläufige Ende war der Sturm auf das Capitol und das Ende von Trump. Würde man meinen. Aber hie und da gibt es dann doch Zufälle. Ohne Corona wäre Trump nämlich noch immer Präsident. Sicher sogar.

Wenn wir also das nächste Mal „So sind wir nicht!“ sagen, dann sollten wir uns einigermaßen sicher sein, dass es keine Trump-Fingerabdrücke in unseren politischen und gesellschaftlichen Handlungen gibt. Ich wäre mir nicht so sicher.

Ihr Harry Bergmann

Dr. Harry Bergmann, kein Studienabbrecher, aber in der Werbung dennoch Autodidakt. Seit 2 Jahren nicht mehr in der Werbung, aber schon wieder Autodidakt. Diesmal beim Schreiben. Lebt in Wien und in Israel, außer es ist gerade in einem der beiden Länder ein Lockdown.


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