Das große Vergessen

Wir sollten uns unbedingt an 2020 erinnern, denn es ist das Jahr, in dem wir uns alle neu entdeckt haben

Harry Bergmann
am 22.12.2020

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Foto: Shutterstock

In ein paar Tagen ist es soweit. Dann gibt es in allen Medien Jahresrückblicke. Ich liebe Jahresrückblicke. Sie nicht? Bei mir hat es zweifellos mit meiner besorgniserregend schwachen Gedächtnisleistung zu tun. Ich erfahre in Jahresrückblicken viele neue, sehr interessante Dinge, einfach weil ich sie total vergessen habe. Gelegentlich habe ich schon Déjà-vus, aber das sind ja bekanntlich nur Erinnerungstäuschungen.

Viele Leute meinen, dass dieses Jahr ohnehin zu vergessen ist. Das finde ich ganz und gar nicht. Wir sollten uns gerade an 2020 erinnern. Denn es ist das Jahr, in dem wir uns alle selbst entdeckt haben. Auch Seiten an uns, die wir gar nicht für möglich gehalten haben. Im Guten wie im Schlechten. All das zu vergessen würde bedeuten, die interessante Bekanntschaft mit uns selbst nicht in die neue Zeitrechnung mitzunehmen. Denn schon bald wird es heißen: „War das vor der Pandemie oder nach der Pandemie?“

Stellen Sie sich bitte das Vergessen nicht so einfach vor. Man muss es systematisch angehen. Der erste Schritt ist, nicht zuviel in sich aufzunehmen, sonst wird die Vergessensmenge zu groß. Deshalb habe ich mich das ganze Jahr über an keiner der unzähligen virologischen, epidemiologischen oder sonstwie logischen Diskussionen beteiligt. Ich meine diese Krethi-und-Plethi-„Bitte-ich-weiß-auch-was!“-Diskussionen. Ich kenne keine Statistik, keine Kurve, keine Hochrechnung, keine Simulation. Ich habe auch kaum eine Pressekonferenz gesehen, aber da habe ich sicher nichts zum Vergessen versäumt. Ich glaube, ich bin mit diesem Kommunikationsentzug ganz gut gefahren, denn ich hätte so oder so das Gleiche gemacht. Abstand, Maske, Händewaschen, Anti-Gen-Test zuhause bei jedem Husterl oder Halskratzerl. Hypochonder! Psychosomatiker!

Ich trau es mich kaum zu sagen, aber ich bin ein Pandemie-Gewinner. Nicht weil ich 80% des Umsatzes vom Vergleichsmonat des Vorjahres rückvergütet bekomme, auch nicht 50%. Denn 80% von Null ist Null. 50% sogar noch weniger. Nein, weil ich Neues für mich entdeckt habe. Das Schreiben. Ich durfte schon früher – in der Werbung – schreiben. Aber da musste alles möglichst kurz sein. Ich erinnere mich – warum erinnere ich mich immer an die unwichtigen Dinge? – an meinen ersten Werbetext. Da war ich gerade mal eine Woche in der Werbung. Es ging um die weltbewegende Mitteilung, dass eine Druckerei eine neue Telefonnummer bekommen hat. Mir gefiel dieses Thema außerordentlich und ich stellte mir vor, was passieren würde, wenn die Kunden dieser Druckerei noch immer die alte Nummer wählen würden. Es entstand ein netter Essay über Menschen, die nicht zueinander finden. Humorvoll und gesellschaftskritisch zugleich.

Ich übergab den Text, etwa 5 Seiten A4, dem Art Director, der mir zugeteilt war. Ein erfahrener Werber. Also eigentlich war ich ihm zugeteilt. Der schaute mich wortlos an und ging seiner Wege. Eine Woche später erschien die Anzeige. Ein lustiges Foto der Druckerei-Mitarbeiter, die eine Zirkusnummer nachstellten. Darunter der einzeilige Text: „Bitte beachten Sie unsere neue Nummer.“ Na ja.

Ein ehemaliger Mitbewerber und wunderbarer Texter schrieb mir unlängst: „Ich bin Werbetexter geworden, um so wenig wie möglich für meinen Lebensunterhalt schreiben zu müssen.“ Ich habe es ja nicht so mit der Reduktion und Sie, meine hochgeschätzten Leserinnen und Leser, müssen das jetzt leider ausbaden.

Aber zurück zur Pandemie. Ich habe in dieser Kolumne oft die Regierenden angegriffen, dass sie die Hauptschuld an diesem Sperr zu-Sperr auf-Sperr zu-Schlammassel trifft. Wenn ich aber das Gefühl hatte, dass ich nur wegen eines Bonmots wiedermal über die Stränge geschlagen hatte, schob ich flugs die Schuld auf die Bevölkerung. Ihre Ignoranz, ihre Rücksichtslosigkeit, ihre Besserwisserei, ja, ihre Dummheit. Natürlich weiß ich, dass beides stimmt. Aber versuchen Sie einmal eine Kolumne zu schreiben, wo alle gleich schuld sind. Wo es keine Guten und keine Bösen gibt.

Jetzt habe ich aber – gerade noch vor Ende des Jahres – eine wichtige Entdeckung gemacht. Ich wollte endlich eine Erklärung finden, warum mein Gedächtnis löchrig wie ein Schweizer Käse ist. Da stieß ich auf einen Artikel mit dem Titel: „The Swiss Cheese Strategy“.

Reinfall! Es ging natürlich nicht um meine Vergesslichkeit, dafür aber – hört, hört – um eine Theorie zur Corona-Bekämpfung. Man stelle sich 4 Emmentaler-Scheiben hintereinander vor. Jede Scheibe ist eine Anti-Corona-Maßnahme (bitte fragen Sie mich nicht welche, schon längst wieder vergessen) und jede Scheibe hat natürlich die Löcher woanders. Kommt das Virus bei der ersten Scheibe durch, wird es vielleicht von der zweiten oder dritten gestoppt. Irgendwann rennt das Virus in eine Emmentalerwand. Übrigens: keine der Scheiben ist ein Lockdown, denn das ist die schmerzhafteste und die mit Abstand teuerste Maßnahme. So hat es Neuseeland geschafft. So hat es Australien geschafft.

Ha!!, dachte ich, also doch die Politik und ihr falsches Maßnahmen-Management. Leider habe ich weitergelesen und den Anfang überraschenderweise nicht vergessen. Jede Maßnahme ist nur dann erfolgreich, wenn die Bevölkerung in höchster Disziplin mitmacht.

Na ja, vielleicht ist 2020 wirklich zu vergessen.

Im nächsten Jahr schreibe ich dann vielleicht über……..ich habe es gerade noch gewusst…

Ihr Harry Bergmann

Dr. Harry Bergmann, kein Studienabbrecher, aber in der Werbung dennoch Autodidakt. Seit 2 Jahren nicht mehr in der Werbung, aber schon wieder Autodidakt. Diesmal beim Schreiben. Lebt in Wien und in Israel, außer es ist gerade in einem der beiden Länder ein Lockdown.


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