Die ewige Frage: Meer oder Berge?

Der lebenslange Weg von einer Hafenstadt in Israel zu den Tiroler Bergbahnen

Harry Bergmann
am 12.11.2020

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„Wo soll ich beginnen? Die Welt ist so groß. Ich werde also mit dem Land beginnen, das ich am besten kenne, mit meinem eigenen. Aber mein Land ist so groß. Ich fang doch lieber mit meiner Stadt an. Aber meine Stadt ist so groß. Am besten beginne ich mit meiner Straße. Nein, mit meinem Haus. Nein, mit meiner Familie. Ach was, ich beginne bei mir.“ (Elie Wiesel)

Ich bin ein Städter. Ich bin in einer Stadt am Meer geboren. Ein paar tausend Kilometer südöstlich von der viel größeren Stadt, in die mich meine Eltern im Alter von 3 Jahren gebracht haben. Diese Stadt liegt nicht am Meer. Im Gegenteil, sie ist die Hauptstadt von dem Land, das sie Land der Berge nennen. Ich habe die Sprache dieses Landes gelernt. Ich habe die Schulen dieses Landes besucht. Ich habe sogar studiert. Das war Anfang der 70er Jahre. Da gab es einen Bundeskanzler, auf den sich heute viele – auch viele Politiker -berufen. Er hat das Land entstaubt und geöffnet, sagen sie.

Dieser Bundeskanzler hatte aber mit mir ein Problem. Also nicht direkt mit mir, sondern mit dem Land, in dem ich geboren wurde. Wenn es um dieses Land ging, verlor er seine sonst großbürgerliche Contenance und polterte unkontrolliert darauf los. Also hatte ich auch ein Problem mit ihm. Daran änderte auch nichts, dass wir das gleiche Religionsbekenntnis hatten. Im Gegenteil, ich bekannte mich dazu, er nicht.

Aber ansonsten konnte ich in all der Zeit das Land am Meer und das Land der Berge recht harmonisch in mir vereinen. Außer, wenn das eine Land gegen das andere Fussball spielte, da war es dann aus mit der Harmonie.Bin ich ein Migrant? Man könnte sagen, ja. Aber eigentlich kann man das nicht wirklich sagen, weil mein Vater in der Hauptstadt des Landes der Berge geboren wurde. Und er wie ich, nein, ich wie er, in dieser Stadt ins Gymnasium ging. Er nur 6 Jahre lang, weil er schon 1938 aus der Schule flog. Man fand aber bald eine Beschäftigung für ihn: mit einer Zahnbürste das Trottoir zu putzen. Er erzählte mir, dass sich das in der Nähe der Gasse, die sie Seitenstettengasse nennen, abspielte. Sie kennen die Gasse sicher vom vorletzten Montag. Ja genau die, wo eine Synagoge ist. Aber das ist eine ganz andere Geschichte. Na ja, so anders auch wieder nicht.

Das mit der Harmonie war für jemanden, der im Land am Meer geboren wurde und dessen Eltern den Holocaust, mehr tot als lebendig überlebten, nicht immer so einfach. Vor allem als Schulkind, wenn Mitschüler erklärten, ich sollte doch wieder „zu Euch da unten fahren.“ Ich habe auch nicht verstanden, ob „unten“ geographisch oder sozial gemeint war. Geographisch ist es jedenfalls falsch, weil es ja viel weiter rechts, als unten ist. Aber egal.

Je älter ich wurde, desto kleiner wurde das Problem. Nicht weil das Problem kleiner wurde, sondern weil ich einen, zumindest für mich, zufriedenstellenden Status hatte, der mir solche Erlebnisse vom Leib hielt. „Ah, Sie sind auch einer. Das hätte ich nicht gedacht“ war schon eher die Preisklasse, mit der ich mich herumschlagen musste.

Verzeihen Sie, ich bin jetzt einfach so ins Erzählen gekommen. Dabei wollte ich Ihnen nur sagen, dass ich ein Städter bin. Weil ich heute über die Berge im Land der Berge sprechen wollte und nicht sicher bin, ob mir das als Städter überhaupt zusteht. Als einer der von „da unten“ kommt, schon überhaupt. Aber sei’s drum.

Wenn das Kitzloch…ähm, der Berg ruft, laufen die Österreicher johlend ins Freie! | Foto: APA/ Barbara Gindl

Ich liebe die Berge, wie Millionen andere auch. Vor allem, wenn sie weiß sind und man auf ihnen herunterfahren kann. Viele von denen, die die Berge aus einem anderen Grund herunterfahren, als ich, wollen sich – wenn sie endlich unten sind- vor allem amüsieren.

Das letzte Mal, als sie so richtig die Sau rausgelassen haben, kam nicht nur die Sau, sondern auch gleich eine Pandemie dabei heraus. Die Pandemie kam natürlich aus China, aber durch das enge Kitzloch musste sie halt auch noch gehen und wurde erst dort so richtig beschleunigt.

Seit damals bangt das Land der Berge um sein höchstes Gut: den Wintertourismus. Jetzt würde man doch annehmen, dass irgendwer in den Bergen sagt: „Tut uns aufrichtig leid. Es war unsere Schuld. Wir haben gelernt. Wir ziehen die Konsequenzen.“ Stattdessen schallt es mit Echo von den Bergen: „Wir sind vereint, wie ein großer Schützenverein und wer abgeschossen wird, bestimmen immer noch wir!“

Also die Protagonisten sind immer noch dieselben, die Problematik aber leider auch. Corona und kein Konzept, zumindest kein sichtbares. Sichtbar sind nur Skifahrer, die eng aneinander stehen und auf die Gondel warten. Ok, wir sitzen jetzt alle hinter dem Ofen, was die Bergler ja freut, denn rechtzeitig vor Beginn der Wintersaison, werden wir und alle unsere Nachbarn, vor Freude jodelnd, ins Freie laufen, weil der Berg ruft.

Und dort warten schon die Schneekönige auf uns: die Bergbahnen. Diese Alpen-Gondolieres sagen, wo es lang geht. Ohne die gibt es kein Hinauf und ergo kein Hinunter. Und die kennen kein Pardon. Es wird gefahren, bis der Arzt kommt. „Unsere Gondeln werden keine Trauer tragen.“ Und es wird kommen, wie es nach den lukrativen Weihnachtsferien kommen muss: im Februar oder März werden wir alle wieder hinterm Ofen sitzen. Die Bergbahnen werden sich die Hände reiben und es wird nicht wegen der Kälte sein.

Wenn nicht alle von uns lernen, dass es keine Pandemiesieger auf Kosten anderer geben kann, dann werden diese Coronakurven weiter rauf und runter gehen, wie die Gondeln. Das wollte ich heute unbedingt anbringen.

Aber was hat das damit zu tun, dass ich in der Stadt am Meer geboren bin? Eigentlich nichts. Ich wollte es nur mit Elie Wiesel halten und die Gelegenheit wahrnehmen, Ihnen ein bisschen zu erzählen, wer ich bin.

Ihr Harry Bergmann


Harry Bergmann. Früher Demner, Merlicek und Bergmann. Jetzt einfach Bergmann. Nach 40 Jahren in der Werbung auf der Suche nach etwas Neuem. Ältester Kolumnisten-Lehrling auf falter.at. Geboren in Israel. Mit 3 Jahren nach Österreich und hier gerne geblieben. Witwer einer unvergleichlichen Frau, Vater von 3 wunderbare Söhnen und Schwiegervater einer wunderschönen Schwiegertochter. Lebt in Wien und Herzlia/Israel.


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