Wir müssen die Menschen respektieren, wie sie sind. Andere gibt es nicht.

Wir kommen entweder gemeinsam oder gar nicht durch diese Krise

Harry Bergmann
am 26.10.2020

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Es war so. Ich wollte, wie versprochen über die US Wahl schreiben. Also eigentlich wollte ich nicht über die Wahl schreiben, sondern nur über Trump, weil die Wahl ja keine Wahl ist, sondern eine Abstimmung darüber, ob man diesen Tyrannen auf demokratische Art und Weise zum Teufel jagen kann. Nein, das trifft es auch nicht genau. Ich wollte überlegen, was passiert, wenn diese Abstimmung gegen Trump ausgeht, wovon ich völlig überzeugt bin. Er übrigens auch, sonst würde er nicht jetzt schon Gott und der Welt Wahlbetrug vorwerfen. Da er vier Jahre lang damit beschäftigt war, die demokratischen Spielregeln abzuschaffen, wird er seine demokratische Abwahl einfach ignorieren und seine Anhänger mobilisieren. Das sind immerhin rund die Hälfte aller amerikanischen Wähler. Und was dann?

Die US-Wahl ist unter anderem ein Plebiszit gegen Respektlosigkeit | Foto: APA/dpa Oliver Berg

Also, das wollte ich schreiben, aber mir geht seit Tagen eine andere Geschichte nicht aus dem Kopf, die ein Rabbiner gepostet hat.

Ein Mann besucht seinen alten Lehrer, der ihn fragt: „Was machen Sie jetzt so im Leben?“. Der Mann antwortet: „Ich bin Lehrer geworden und das nur Ihretwegen.“ Und er begann seine Geschichte zu erzählen: „Vor 30 Jahren brachte ein Mitschüler eine Armbanduhr in die Schule. Alle Schüler der Klasse bestaunten sie. Sie ging in der Pause von einer Hand zur anderen und am Ende der Pause war sie weg. Einfach weg. Helle Aufregung. Als Sie die Klasse betraten und von dem Vorfall erfuhren, sagten Sie, dass sich derjenige, der die Uhr hat melden soll. Natürlich meldete sich keiner. Daraufhin forderten Sie die Klasse auf, sich mit dem Gesicht zur Wand aufzustellen und die Augen zu schließen. In einer Minute hatten Sie die Uhr in der Hand und übergaben sie dem Bestohlenen. Sie ermahnten uns, dass wir nicht nach dem Dieb suchen sollten, weil er nicht böse ist, sondern nur für einen Augenblick der Verlockung nicht widerstehen konnte. Heute aber will ich Sie fragen, warum haben Sie damals nichts gesagt? Sie wussten doch, dass Sie die Uhr aus meiner Tasche gezogen haben.“

„Nein, ich wusste es nicht“ antwortete der alte Lehrer „ich hatte wie Ihr die Augen geschlossen. Ich wollte keine schlechten Gedanken über einen meiner Schüler im Herzen tragen. Dann hätte ich vielleicht den Respekt verloren, ohne den ich kein guter Lehrer sein kann.“

Sie haben völlig recht. Das ist gar keine „andere Geschichte“. Es ist die Geschichte über die US-Wahl, die unter anderem ein Plebiszit gegen Respektlosigkeit ist.

Respekt. Wir haben, ohne Zweifel, den gegenseitigen Respekt verloren. Wir sind sehr schnell mit der Erklärung zur Hand, dass die Politik ein Klima geschaffen hat, in dem der Respekt verkümmert. Aber könnte es nicht auch umgekehrt sein? Dass nämlich Respektlosigkeit in Form von Rassismus, Antisemitismus, Herzlosigkeit gegenüber den Schwachen und den Armen, diese populistischen Politiker erst heraufgespült hat? Die haben mangelnden Respekt nicht erfunden, sie surfen nur perfekt auf dieser Welle und verstärken sie. Ist der Spruch „Jedes Volk hat die Anführer, die es verdient“ wirklich so falsch?

Ich frage das deshalb, weil ich ja selbst keine Gelegenheit auslasse, über die Politik herzuziehen. Ein guter Freund von mir, der übrigens im gleichen Operationssaal unmittelbar nach mir gleich beide Hüften neu bekommen hat – er neigte immer schon zur Übertreibung – kritisierte mich bei unseren gemeinsamen Spitalsspaziergängen (wir nannten sie „3 neue Hüften für ein Halleluja“), dass ich immer auf den Türkisen und den Grünen herumtrample. Es würde alles, was ich schreibe, kleiner machen. Möchte mal sehen, wie Herumtrampeln mit zwei Krücken überhaupt möglich ist, aber bitte! Also ich sag jetzt nichts über Kurz oder Sobotka, obwohl mir da gerade im Zusammenhang mit mangelndem Respekt einiges einfallen würde. Ich schluck einfach die bittere Pille hinunter.

So, und jetzt sekkiert uns noch dieses Virus. Und plötzlich wird der fehlende Respekt sichtbarer als je zuvor. In doppelter Hinsicht. Wir haben zu wenig Respekt vor dem Virus und vor den anderen Menschen sowieso.

Man muss vor dem Virus keine Angst haben, aber eben Respekt vor dem, was es anrichten kann. Vielleicht irre ich mich, aber ich habe den Eindruck, dass eine Sorglosigkeit an den Tag gelegt wird, die völlig losgekoppelt von der Realität ist. Ich weiß schon, es wird viel mehr getestet als im Frühjahr, wir wissen viel mehr über die Verbreitung und die Behandlung, aber Leute: „3000 am Tag sind 3000 am Tag und exponentiell ist exponentiell…!“

Und was unsere lieben Mitmenschen betrifft, wir werden entweder gemeinsam oder gar nicht durch die Krise kommen. Ohne Respekt der Wirtschaft gegenüber der Gesundheit und Respekt der Gesundheit gegenüber der Wirtschaft wird das nicht gehen. Viele glauben, dass das Verhalten eines Einzelnen, der seltsamerweise immer sie selbst sind, nicht ins Gewicht fällt. Wie wär’s mit dem Dalai Lama? Kommt immer gut. „Wenn Du glaubst, dass Du zu klein bist, um etwas zu bewirken, dann versuche mal zu schlafen, wenn eine Mücke im Raum ist.“

Was wir mit unseren Politikern machen, ist mir allerdings schleierhaft. Die haben ihren Respekt-Überziehungsrahmen mehr als ausgeschöpft. Wenn die wieder ins Plus kommen wollen, dann müssen sie schnell begreifen, dass die Verantwortung für das Chaos hin und her zu schubsen wie beim Pfitschigogerl kein allzu erfolgsversprechender Weg ist.

Respekt kann man nicht einfordern. Respekt ist die Erkenntnis, dass der Andere ist wie er ist, aber auf jeden Fall gleichwertig. Ich weiß zwar nicht, ob das jemals in der Geschichte der Menschheit der Fall war, aber dass Trump verliert, ist schon ein Anfang.

Das nächste Mal schreibe ich vielleicht besser erst nach der US-Wahl. Gibt wohl nichts Interessanteres, als das.

Bezüglich der Moria-Kinder: ich suche gerade nach Partnern, die die Patenschaften organisieren und das Geld tatsächlich an den Ort bringen.

Ihr Harry Bergmann


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