Ich wollt, ich wär ein Huhn, ich hätt nicht viel zu tun

Über pandemiebedingte Berufswünsche und die Angst vor den Krisen-Pressekonferenzen

Harry Bergmann
am 17.10.2020

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Ich wäre so gern Politologe. Dann würde mir sicher noch was Gescheites zur Wien-Wahl einfallen. Ich meine, wie alles so weitergehen wird und was es bedeutet. Für Wien, für Österreich, für Europa, für die Welt. Für die Kinder und die Kindeskinder. Und ich könnte auch belegen, was ich sage. Denn heute muss ja alles evidenzbasiert sein. Wobei mir vorkommt, dass das Wort „evidenzbasiert“ immer nur in einer Frage vorkommt. „Woher nemmans des? Is des eh evidenzbasiert?“ In einer bestätigenden Feststellung „Und das sage ich nicht einfach so, das ist evidenzbasiert!“ habe ich es nie oder nur ganz selten gehört. Höchstwahrscheinlich, weil die Frage immer lauter und polternder ist, als die nüchterne Feststellung. Natürlich kann es auch etwas damit zu tun haben, dass ich nicht so gut höre, was leider evidenzbasiert ist.

Als Politologe wüsste ich natürlich genau, was im Kopf des Bürgermeisters vorgeht. Welche Koalition, welche langfristige, politische Entwicklung er einleiten oder fortsetzen würde. Die feingesponnenen Strategien, in die er leider niemanden einweihen kann. Denn wer kann den schon 24 Züge vordenken, wie er? Und es gibt ja so viele Kombinationen. Manche davon kennt nicht einmal sein Nachbar in Floridsdorf. Unlängst erst, so erzählen Leute, die ihm sehr nahestehen, soll er auf einem der langen Rathausgänge auf- und abgegangen sein und vor sich hingemurmelt haben. Das macht er manchmal, obwohl er ja eher ein schweigsamer Typ ist. Und wer genau hinhörte oder von seinen Lippen ablas, der traute seinen Augen und Ohren nicht. Der Bürgermeister überlegte eine Koalitionsvariante, bei der die SPÖ gar nicht in der Stadtregierung sein würde. Er würde an der Spitze einer Radikalopposition stehen, denn er kennt ja alle Schwachstellen und weiß in welchem Keller welche Leichen liegen. Daran würde die gesamte Sozialdemokratie Europas gesunden. Manche der Augen- und Ohrenzeugen wollen sogar das Wort „Oktoberrevolution“ wahrgenommen haben, was nichts anderes bedeuten kann, als dass wir, seine Bürger, innerhalb der nächsten beiden Wochen diesen oder einen anderen Bürger-Master-Plan erleben werden.

Aber ich bin kein Politologe und daher kann mein einfaches Gemüt nur zwei Koalitionsvarianten ausmachen. Rot-Grün oder Rot-Pink. Und ich kann mir den Luxus einer eigenen Meinung leisten, weil sie ja nicht stimmen muss. Also ich bin der Meinung, dass Rot-Pink aus zwei Gründen eine gute Variante wäre. Erstens, weil die Feigheit der Grünen in der Bundesregierung nicht durch eine Beteiligung in der Stadtregierung belohnt werden sollte. Und zweitens, weil es offensichtlich keine Partei mehr für das anständige Bürgertum gibt. Gibt man den Pinken eine Chance und sie versemmeln sie nicht so, wie die Grünen im Bund, dann könnte da wieder eine Heimat für die Mitte entstehen.

Wenn ich kein Politologe sein darf, dann würde ich auch Virologe oder Epidemiologe nehmen. Ich muss allerdings vorab sagen, dass ich Rot-Grün-farbenblind bin. Eine Einladung, in die Ampel-Kommission zu gehen, müsste ich also ablehnen. Obwohl ich weiß, dass dort händeringend Mitglieder gesucht werden und die Einladung trotz meines Farbenblind-Outings, wohl aufrecht bleiben würde: „Geh‘ bitte, is do wurscht, kennt si eh kaner mehr aus. Springen halt rote Bezirke direkt auf grün und umgekehrt.“

Als Virologe oder Epidemiologe würde ich vor oder nach der ZIB eine 5 Minuten-Sendung haben. Ich würde, flankiert von zwei Babyelefanten, durch die Maske sprechen und mir, während ich die neuesten Infektionszahlen präsentiere und interpretiere ständig die Hände waschen. Das würde meiner Zuseherschaft demonstrieren, wie einfach und selbstverständlich, diese drei Maßnahmen sind. Ich könnte auch die Wettervorhersage damit verbinden und live das Infektionsrisiko mit der Außentemperatur kreuztabulieren.

Eine Unangenehme Nebenerscheinung der Pandemie: Krisen-Theater | Foto: APA/ Helmut Fohringer

Aber ich bin kein Virologe. Und auch kein Epidemiologe. Und deshalb habe ich Angst vor den Wintermonaten. Wenn die Zahlen in Österreich und rund um Österreich weiter so steigen – und warum sollen sie das nicht? – wird es bald einen Lockdown light oder Lockdown medium geben. Und dann geht das ganze Theater wieder los. Bitte missverstehen Sie mich nicht, ich bin ein Befürworter aller Maßnahmen, die notwendig sind. Und ich bin überzeugt, dass diese Maßnahmen, selbst die strengsten, von uns kleinere Opfer abverlangen, als die Folgen explodierender Zahlen. Aber ich glaube, ich stehe das politische Theater nicht nochmals durch: die Pressekonferenzen, die Wahlkampfreden ohne Wahlkampf, die gegenseitigen Beschuldigungen, die Tiroler „Unschuldslämmer“, die sedierenden Reden des Gesundheitsministers, nach dem Kampf um Wien, den Kampf gegen Wien, die Schmalzlocke Hofer, der langsam evaporierende Blümel, die Tourismusministerin, die vor einem von Touristen unberührten Alpenpanorama weinend zusammenbricht, die Präsidentin Rabl-Stadler, die ankündigt vor diesem „Gripperl“ nicht zurückzuweichen und nötigenfalls im Sommer den Jedermann selbst zu spielen, die Bergbahn-Gondeln, die gemeinsam mit Herrn Schröcksnadel Trauer tragen und und und.

Wenn ich aber weder ein Politologe, noch ein Virologe, noch ein Epidemiologe sein kann oder darf, dann möchte ich zumindest Vorsitzender des parlamentarischen Untersuchungs-Ausschusses sein. Ich würde am ersten Tag, gleich nachdem ich auf die Verfassung eingeschworen worden bin, zurücktreten und entweder Brigitte Bierlein oder Clemens Jabloner als meine Nachfolgerin, meinen Nachfolger vorschlagen.

Am Tag darauf würde ich von meinem anderen Amt, Erster Präsident des Nationalrats, ohne dem ich ja nicht Vorsitzender des Untersuchungsausschusses hätte werden können, zurücktreten, weil ich für mich selbst untragbar geworden bin.

Ja, das alles würde ich tun.

Beim nächsten Mal schreibe ich dann über die US-Wahl und werde vorher 7/24 CNN schauen oder über das Budget, von dem ich noch weniger verstehe, als der Finanzminister, oder über den Sperrstundenvergleich der europäischen Metropolen oder über etwas wirklich Interessantes.

Die Flüchtlinge in Moria sind noch immer Geiseln des Drecks und Schlamms und der europäischen Politik. Wir müssen etwas tun!

Ihr Harry Bergmann


Harry Bergmann. Früher der Nachname von Demner, Merlicek & Bergmann. Jetzt einfach Bergmann. Weiß nach 4 Jahrzehnten ganz genau, was er alles über Werbung noch immer nicht weiß. Hobby-Schreiber. Da weiß er noch viel weniger und findet das gerade deshalb so spannend. Lebt in Wien und Herzlia/Israel.


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