Die Welt nach der Pandemie – same as it ever was.

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 1007

Armin Thurnher
am 08.05.2023

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Es sieht so aus, als ginge es weniger darum, nun aus den Fehlern der Pandemie zu lernen, um für zukünftige Pandemien gerüstet zu sein, als vielmehr (immer noch), politisch zu punkten – mit Versöhnung mit wem oder was auch immer. Epidemiologe Robert Zangerle bilanziert nüchtern, was zu lernen ist. A. T.

»In der Stille des Lockdowns im Frühjahr 2020 spekulierten nicht nur Fachleute und Zukunftsforscher sondern die meisten von uns darüber, wie die Welt aussehen könnte, wenn die Pandemie vorüber wäre. Von einer neuen Zeitrechnung, einem Wendepunkt in der Geschichte war die Rede. In der neuen Welt spiele Geld nicht mehr die entscheidende Rolle. Wichtiger seien „gute Nachbarn und ein blühender Gemüsegarten“, prophezeite der Zukunftsforscher Matthias Horx. Der französische Schriftsteller Michel Houellebecq hat es damals klarer gesehen: Die Welt nach der Pandemie werde „dieselbe sein“, sagte er, „nur etwas schlimmer“. Irgendwie so kam es dann auch. Entgegen vieler Bedenken sind Händeschütteln, Après-Ski, Autofahren trotz Stau und Fliegen so populär wie vor der Pandemie. Kreuzfahrten sind wieder ausgebucht.

Interessant, für mich eher verstörend, war auch die Entwicklung des Vertrauens der Menschen zu den Regierenden, aber auch generell den Anderen gegenüber. Von Anbeginn an war klar, dass Vertrauen zur Bewältigung der Covid-Pandemie maßgeblich sein wird. Vertrauensverlust beschleunigt „Pandemiemüdigkeit“, und die wiederum zeigt Auswirkungen, die weit über den Gesundheitsbereich hinausgehen. Sie schürt Misstrauen, Protest und Verschwörungsglauben. Verwunderlich war es, wie die Pandemiemüdigkeit bereits im Sommer und Herbst 2020 im Sog einer aggressiven Anti-Lockdown Rhetorik von den Verantwortlichen immer wieder hervorgehoben wurde.

Das unterstreicht, wie wichtig die Einbindung der Sozialwissenschaften in das Pandemiemanagement von Anbeginn war. Dänemark hat das im Frühjahr offiziell veranlasst und ein Team von Sozialwissenschaftlern unter der Leitung des Politologen Michael Bang Petersen von der Universität Aarhus beauftragt, das Pandemiemanagement wissenschaftlich zu begleiten. Da hat sich das Austrian Corona Panel Project (ACPP) der Universität Wien mit der Rechtfertigung und Anerkennung seiner Arbeit vergleichsweise viel schwerer getan. Die „Pandemie-Müdigkeit“ hängt nicht nur mit dem Grad der Einschränkungen und der Schwere der Epidemie zusammen, sondern vor allem mit der Dauer der Pandemie, weshalb es galt, „Ermüdungserscheinungen“ vorzubeugen und einer weiteren Zunahme der politischen Unzufriedenheit entgegenzuwirken.

Nun, das scheint in Österreich nicht so gut funktioniert zu haben. Am 15. Februar 2023 gab Bundeskanzler Karl Nehammer bekannt, dass er einen breiten Versöhnungsprozess einleiten will, der dem Polarisierungsprozess in der Gesellschaft entgegenwirken soll. Er wolle jetzt die Hand ausstrecken – „auch zu all jenen, die sich durch die Pandemie und ihre Folgen nicht mehr in der Mitte der Gesellschaft willkommen gefühlt haben“. Die Seuchenkolumne ist natürlich mitgemeint. Die ursprünglich vom Bundeskanzler versprochene „Versöhnungsrede“ sei jetzt doch nicht geplant. Die Regierung beauftragte, kundgetan in einer Pressekonferenz am 4. Mai,  das Institut für Technikfolgen-Abschätzung (ITA) der Akademie der Wissenschaften zu einer Analyse von vier Themenbereichen:

  • Polarisierung,

  • politische Zielkonflikte („welche Dialogmöglichkeiten man vielleicht verpasst hat“),

  • Politikberatung (Beratung der Politik durch die Wissenschaft) und

  • öffentliche Kommunikation sowie Wissenschaftsskepsis.

Ein internationaler Beirat wird den Prozess begleiten. Im Herbst wird über Fokusgruppen der Dialog mit der Bevölkerung intensiviert. Bereits vor dem Abschlussbericht zum Jahresende soll es im Sommer erste Zwischenergebnisse geben. Das Projekt, mit 545.000 Euro Kosten veranschlagt, ist im Wissenschaftsministerium verankert. Minister Martin Polaschek verwies dabei auf die Notwendigkeit, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu erneuern. Scheint das nur für Corona zu gelten?

In der Reaktion auf Klimaaktivisten glaubt man eine weitere Schwächung des gesellschaftlichen Zusammenhalts erkennen zu können. Ist es nicht ein Wachsen einer Bereitschaft zu Rissen in der Gesellschaft, wenn von Klimaterroristen und einer Verschärfung des Strafrechtes das Wort geredet wird, wo doch Diskurs gefragt wäre? „Wer seine Freiheit dazu missbraucht, das Leben seiner Mitmenschen zu gefährden, dem muss der Entzug seiner Freiheit drohen“. Wie gesellschaftlich verbindend ist ein „Auto-Gipfel“, zu dem Bundeskanzler Karl Nehammer am 19. April Experten und Vertreter der Industrie eingeladen hatte, mit dem Ziel „in Brüssel Druck auf(zu)bauen gegen Denkverbote“. „Es gibt so viele Bereiche, in denen wir in Österreich Entwicklung leisten können, einerseits wenn es um den grünen Verbrenner geht, um den E-Fuel-Einsatz, anderseits wenn es um neue Möglichkeiten der Elektromobilität geht“. Es schaut aus, als ob da jemand zu spät zur Party kommt, schließlich wurden die Wünsche von Ferrari und Porsche bzw. deren Verkehrsministern Matteo Salvini („Freie Fahrt am Brenner“) und Volker Wissing, von der EU-Kommission längst genehmigt. Hat Nehammer vor, die Österreicher und Österreicherinnen mit Ferraris und Porsches zu versöhnen?

Zurück zur Pressekonferenz am 4. Mai: Gesundheitsminister Johannes Rauch machte klar, dass die Aufarbeitung durch die Akademie der Wissenschaften nur Teil des Gesamtprozesses sei. Schließlich lägen bereits mehrere Rechnungshof-Berichte zur Pandemiebekämpfung vor. Aus den entsprechenden Erfahrungen will man für einen künftigen Pandemieplan lernen. Gibt es also doch jemanden, der an die Rechnungshofberichte zu Corona erinnert. Alle scheinen von diesen Berichten zu wissen, aber wen interessieren die Inhalte?

Der Rechnungshof überprüft als ein Organ der Finanzkontrolle sämtliche Hilfsmaßnah­men an die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, sowie die Krisenbewältigung im Gesundheitsbereich und das behördliche Zusammenwirken systemisch und funktionell. Bis Ende März 2023 hat der Rechnungshof 18 Prüfungen zur COVID–19–Pandemie veröffentlicht:

Der Rechnungshof hat Anfang April 2023vdas Themenpapier „COVID–19|Rechnungshof.Mehr.Wert auf Basis seiner veröffentlichten 18 Berichte vorgelegt. Dieses Themenpapier gibt ein aussagekräftiges Bild über das Pandemiemanagement, die Abwicklung der COVID–19–Hilfen, die Krisenfestigkeit der  Institutionen, die Effektivität der Kontrollsysteme und die Auswirkungen auf die öffentlichen Haushalte. Die Schlüsse, die der Rechnungshof aus seinen Berichten zieht, sind als „Lessons Learned“ für die laufenden und für künftige Krisenbewältigungen zu verstehen. Für den Rechnungshof steht dabei nicht die Kritik im Vordergrund, sondern die Frage, wie in Zukunft auf vergleichbare Situationen reagiert werden soll.

Wenngleich das Themenpapier ganz allgemein Stärken und Schwächen des Pandemiemanagements oft plakativ darstellt, wie aus der folgenden Tabelle zu entnehmen ist, so ist es doch eine Hilfestellung, weil man für detailliertere Fragen zu den Einzelberichten gehen kann.

Jedenfalls weist das „eingeschränkte Bild über medizinische Versorgung“ auch auf ein kommendes Risiko hin.

Die Meldepflicht wurde abgeschafft. Sie wird ersetzt durch freiwillige Teilnahme an einem Sentinella-Meldesystem, das man, sowohl für ambulante wie stationäre Strukturen, gerade in verbesserter Form versucht zu etablieren. Es sollte alle wichtigen „respiratorischen“ Infekte erfassen. Es ist aber derzeit zu ungewiss, ob damit ausreichend Daten zur Krankheitslast gewonnen werden können.

Das Abwasser erfasst die Infektionslast aber natürlich ohne Wissen zur Verteilung in Bevölkerungsgruppen mit erhöhtem Risiko, schwerer an diesen Infekten zu erkranken. Deshalb würde ich, zumindest bis Frühjahr 2024, eine Meldepflicht für schwere Erkrankungen durch Covid (= Krankenhausaufnahmen) und Tod an Covid belassen. Damit wäre gleichzeitig zumindest eine elementare Verknüpfung vom Epidemiologischen Meldesystem (EMS) mit einer Krankenhausbelegung erfüllt (im EMS wird die Krankenhausbelegung nicht erfasst!)

Bei den Investitionen in das EMS liegen wir so weit hinten wie bei der PISA Studie oder wie beim Eurovision Song Contest. Die fehlende Dokumentation des Krankheits­verlaufs im EMS hat der Rechnungshof besonders hervorgehoben.

Aber ist das alles vor der nächsten Pandemie überhaupt noch wichtig? Die Pandemie als Ausnahmezustand ist tatsächlich vorbei. Sind wir nun in einem endemischen Zustand? Es wird gemeinhin so gesehen, obwohl wir uns irgendwo zwischen einem ausgewachsenen Notfall und einem endemischen Zustand der Vorhersehbarkeit befinden. Die Epidemiologie hat für eine solche Phase der nicht wirklichen Vorhersehbarkeit keinen Begriff. SARS-CoV-2 mutiert derzeit 2-mal schneller als die Grippe. Es wird also weitere Wellen geben, aber angesichts der Immunität der Bevölkerung durch Impfungen und Infektionen werden es eher kleine Wellen („wavelets“) sein. Und diese Wavelets werden mehrmals im Jahr auftreten. Die Wahrscheinlichkeit, dass in den nächsten zwei Jahren eine besorgniserregende Variante auftritt, die man Pi nennen würde, wird von US-amerikanischen Experten auf etwa 20% geschätzt, so in einem Schreiben an das Weiße Haus.

Woher kommen die 20%? Das Weiße Haus hat in den letzten Wochen etwa ein Dutzend Experten und Expertinnen zur Wahrscheinlichkeit einer besorgniserregenden Virusvariante befragt; diese Diskussion bleibt unkommentiert. Trotzdem sickerten diese „20%“ durch, weil zwei dieser Experten von sich aus mit Medien Kontakt aufgenommen haben, die Washington Post berichtete. Es ist eine Expertenschätzung, die niedrigste Schätzung soll bei 5% gelegen haben. Jedenfalls mehr als eine winzige Chance für ein solches Szenario.

Wenn dieses mögliche, aber nicht sehr wahrscheinliche, Szenario aber der Fall wäre, dann wäre die Welt wieder ordentlich zurückgeworfen. Käme eine Impfung mit einem neuen Impfstoff in 100 Tagen? Kürzlich hat die US-Regierung einen Plan für fünf Milliarden verlautbart, womit die Forschung der nächsten Generation von Impfstoffen angekurbelt werden soll. Die Chancen, dass mit einer so starken Investition das Ziel erreicht wird, Impfungen herstellen zu können, die nicht nur vor schwerer Krankheit, sondern auch besser vor einer Infektion schützen, stünden nicht schlecht. Aber dieser 5-Milliarden-Dollar-Topf könnte demnächst bei den Verhandlungen mit dem Repräsentantenhaus zur Schuldenobergrenze im Rahmen eines Kompromisses wieder einkassiert werden, wie US-amerikanische Gesundheitsexperten befürchten.

Dass es im Augenblick gut ausschaut, kann man auch aus dem jetzigen Infektionsgeschehen in Österreich ableiten. Um die Situation (Tirol) zu veranschaulichen, habe ich die Krankenhausbelegung durch Covid Patienten (Normalpflege und Intensivpflege) mit einer Grafik des Abwassers kombiniert, die anhand von Modellen versucht, die Zahl der fiktiven Ausscheider zu quantifizieren. Man sieht, dass aktuelle Werte ein tieferes Niveau als letztes Jahr zur gleichen Zeit erreichen. Natürlich gab es im Sommer 2020 und 2021 noch niedrigere Werte der Krankenhausbelegung, aber man darf nicht vergessen, dass es jedes Mal monatelange massive Maßnahmen brauchte, um dorthin zu gelangen, verglichen mit den jetzigen Werten, die im Wesentlichen allein auf die Immunität zurückzuführen sind. Und noch ist die Talsohle nicht erreicht. Im Moment sieht es ruhig aus. Vielleicht bleibt das auch so – aber das werden wir erst in Monaten wissen.

Nur Tirol? Nein, aber anderswo kann man es nicht so akkurat veranschaulichen. In Wien war der Abfall um gute 10 Tage verzögert, vermutlich ein Klumpenrisiko (allgemein geändertes Verhalten) nach dem Aus der Maske im öffentlichen Verkehr.

Und wie schaut es mit den Sterbefällen aus? Wenn man die beiden Kurven von Statistik Austria anschaut, dann fällt einmal auf, dass die farbigen Kurven (die rezenteren) bei den Sterbefällen oben und bei der altersstandardisierten eher unten zu liegen kommen. Das ist zuerst einmal trivial: es sterben mehr Leute (Bevölkerung wächst, es gibt kontinuierlich mehr ältere Menschen). Die altersstandardisierte Sterberate nimmt über die Jahre ab. Dieser Griff, also die Altersstandardisierung, schließt Veränderungen aus, die sich nur aufgrund einer Zunahme der Einwohnerzahl oder durch das Aufrücken von mehr Personen in höhere Altersgruppen mit entsprechend höherer Sterbewahrscheinlichkeit ergeben.

Die über die Zeit beobachteten Niveauunterschiede in der Sterblichkeit sind somit weitestgehend Konsequenz der steigenden Lebenserwartung und erschweren die Vergleichbarkeit mit weiter zurückliegenden Jahren. Da für die Berechnung eine fiktive Standardbevölkerung herangezogen wird, sind die altersstandardisierten Sterberaten nur im Vergleich zueinander interpretierbar, nicht jedoch in der Höhe ihrer einzelnen absoluten Werte. Dennoch lassen sich drei Dinge klar benennen: Erstens ist der Rückgang der Sterberate Anfang 2023 (fette dunkelrote Kurve) sehr eindrucksvoll, in dieser Steilheit ungewöhnlich und möglicherweise dem auch international zu beobachtenden raschen Abfall der Grippeepidemie dieses Winters entsprechend. Es gibt einen kleineren Anstieg zwischen Kalenderwoche 8 und 10 (beginnt 20. Februar und endet am 12. März, entsprechend dem Gipfel der XBB1.5 Welle). Zweitens die enorme Abweichung im Herbst 2020 und 2021. Drittens die Abweichung 2022 jeweils bei den Wellen im Frühjahr, Sommer und Herbst (hervorgehoben durch den roten Stern). Konkret hat die Übersterblichkeit auch 2022 mit Covid zu tun, allein im Dezember 2022 wird vermutlich die Grippe hauptverantwortlich für die massive Übersterblichkeit sein (analog zu 2016).

Wie immer scheint es auch heute ein guter Zeitpunkt zu sein, daran zu erinnern, dass es besser ist, sich nicht mit einem Krankheitserreger zu infizieren, als mit dem Erreger infiziert zu sein. Das ist kein kontroverser Punkt..

P.S.: die WHO hat am 5. Mai die seit dem 30. Januar 2020 geltende „gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite“ (Public Health Emergency of International Concern – PHEIC), die höchste Alarmstufe, die die WHO ausrufen kann, beendet. Für die Seuchenkolumne kommt das berechtigt und nicht unerwartet, Näheres in der Seuchenkolumne vom 3. April. Dem „Wir haben die Mittel“ wird die Seuchenkolumne weiterhin ein „dann tut doch mehr, dass sie auch allen zur Verfügung stehen“, entgegen halten (z.B., Impfung Up-to-Date? Paxlovid leicht zugänglich? Aufklärung von Personen, die Paxlovid nicht nehmen dürfen, dass es Remdesivir Infusionen gibt?).« R. Z.


Im Übrigen bin ich der Meinung, man muss die Wiener Zeitung vor der Regierung retten.


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Was wir aus der Pandemie gelernt haben könnten: Distanz kann nicht schaden, halten Sie Ihre Impfungen up to date, Händewaschen ist nie falsch, benützen Sie Masken, wenn es sich empfiehlt, und bleiben Sie rücksichtsvoll. Ihr Armin Thurnher

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