Noch mehr zu den blauen Seiten des ORF. Eine emotionale Antwort auf Veit Dengler

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 845

Armin Thurnher
am 29.09.2022

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Die anderen blauen Seiten: Bild von Yves Klein.

Der Unternehmer, ehemalige Geschäftsführer der NZZ und Mitbegründer der Neos, Veit Dengler, hat auf meine Polemik  in der Presse geantwortet. Er sagte auf Twitter, er wolle damit „Emotion rausnehmen und eine unaufgeregte Analyse liefern.“ Was an Gefühlen „rausgenommen“ wird, rutscht oft unaufgeregt in die Analyse hinein.

Im Wesentlichen bezieht sich Dengler auf meinen Beitrag und auf eine Wortmeldung des ORF Redakteurssprechers Dieter Bornemann.

Sein Hauptargument bringt Dengler im ersten Absatz vor:

„In der österreichischen Medienblase gibt es Aufregung über die Ankündigung von ORF-Generaldirektor Roland Weißmann, den Online-Auftritt des ORF in Richtung mehr Video und weniger Text umzubauen. Er plant, den Umfang der ,blauen Seiten‘ von 120 bis 130 geschriebenen Meldungen pro Tag auf circa 60 zu reduzieren.

Das ist keine Nachricht, die viel Aufsehen erregen sollte. Der Medienkonsum gerade Jüngerer verschiebt sich deutlich Richtung Bewegtbild. Daher ist es konsequent, wenn auch der ORF sein Angebot zeitgemäßer, mit mehr Bewegtbild, gestaltet. Dabei darf er die Seh-, Hör- und Lesegewohnheiten der Älteren nicht aus den Augen verlieren; schließlich hat die Anstalt einen Versorgungsauftrag für die gesamte Bevölkerung.“

Wenn ich eine unfaire Analogie ziehen darf: „Der Medienkonsum gerade Jüngerer verschiebt sich deutlich in Richtung Führerstaat, Politikablehnung und Fremdenfeindlichkeit. Daher ist es konsequent, wenn auch der ORF…“

Öffentlich-rechtliche Medien, das war und ist mein Argument, dürfen sich zu ihrem Publikum nicht opportunistisch verhalten. Gerd Bacher, sonst nicht mein Bruder im Geiste, verstand das. Man mag es Erziehungswahn, Anmaßung oder Oberlehrertum nennen, aber gute Medien haben geradezu die Verpflichtung, ihrem Publikum nicht nachzutrotten. Sie sollen versuchen, seinen Geschmack, seine Haltung und seine Einstellung zu beeinflussen, seinen Verstand für Neues zu öffnen, seine Phantasie anzuregen, seine Sicht auf die Welt bunter, vollständiger, unverhoffter zu machen, ihm Impulse zu geben, mit ihm in den Dialog treten undsoweiter.

Es ist jedoch nicht ihre Aufgabe, der Bevölkerung von Kickeritzpotschen die Filzpotschen zum Hausblatt zu bringen und sich bei ihr einzuweimperln. Oder, wie Dengler schreibt: „Österreichs Medien müssen noch Hausaufgaben machen, ihre Produkte besser gestalten, um Traffic in Umsatz münzen zu können.“ Das ist Kaufmannsprosa, stets auf dem neuesten Stand („genauso wie im Flugzeug und bei Uber“) daneben. Medien, die diesen Namen verdienen, sind mehr und anderes als Kaufmannsgeschäfte.


„Die Anstalt“ hat nämlich, anders als Dengler es uns nahelegt, nicht nur einen Versorgungsauftrag. Den Auftrag des ORF auf diesen zu reduzieren und von dort alle weiteren Argumente herzuleiten, ist billig, außerdem gesetzwidrig, mindestens gesetzesfremd.

Nun meine ich keineswegs, dieses Gesetz sei glänzend formuliert oder umfassend argumentiert, aber es steht nun einmal so da.

Seine erste Denkfigur „Fortschritt durch Anpassung“ variiert Dengler dann so:

„Der Trend zum Bewegtbild hat längst auch auf das Aneignen von Wissen übergegriffen. 40 Prozent der Studierenden recherchieren online bereits mehr über Video als über geschriebenen Text. Und selbst diejenigen, die nach wie vor auf Buchstaben bauen, ziehen Videos großmehrheitlich zur Unterstützung hinzu.“

Auf Buchstaben zu bauen, bedeutet dem Denker Dengler zufolge auf Sand zu bauen. Dem Sand, dem beweglichen (Silicon?) eingezeichnet ist alles Alphabetische, der Trend geht „großmehrheitlich“ zu den Bildern. Entalphabetisiert euch! Da wollen wir kleinmütlich nicht zurückstehen, wollen wir?

Und ob wir wollen! Man könnte zwar versuchen, das ORF-Gesetz auf TikTok zu tanzen, aber ich bin beruhigt, dass es doch noch in Textform vorliegt. Als weiland Vortragender an Hochschulen kann ich außerdem bezeugen, dass Videos im Vergleich zu Texten vor allem zur Zerstreuung beitragen.

Die Alphabetisierung machte es übrigens vor zweieinhalb Jahrtausenden möglich, Gesetzestexte oder Epen aufzuschreiben. Durch die Entlastung des Gehirns von Aufgaben des Gedächtnisses entstand zivilisatorischer Krempel wie Philosophie, Naturwissenschaft, Recht, Literatur und demokratische Verfassung. Der Buchdruck hat all das dann auf die Spitze getrieben und zum Übel der Aufklärung geführt. Bald werden wir es überwunden haben. Mit Trump, Youtube und Fox-News werden wir den Buchstabenterror wieder los und können frisch ans Werk des Ummünzens in vordemokratische Zustände gehen, zum Faustrecht der Milliardäre unter digitalen Umständen und mit bewegten Bildern nach Herzenslust.

Zuvor reden wir noch kurz vom Falschmünzen. Ich erwähne die Alphabetisierung auch, weil Dengler Bornemann und mich zu „platonischen Wächtern“ ernennt. Das gehört wohl zum üblichen antilinken Framing („Moralwächter“ oder „Tugendterrorist“ ginge auch, „platonische Wächter“ klingt nobler und irgendwie gebüldet), ist aber schon deswegen absurd, weil Plato durch Sokrates vehement gegen die Alphabetisierung Stellung nahm. Verschriftlichung entlaste das Gedächtnis und verblöde die Menschheit, meinte er.

Schriftgegner Dengler ist also der wahre Platonist.

Aber er hat mich durchschaut. Mir ist es ja völlig wurscht, wie viele Buchstaben oder Artikel auf den blauen Seiten stehen, wenn diese als jenes textbasierte Qualitätsmedium weiterbestehen, das sie sind. Gern mit medialen Erweiterungen, die sich an der im ORF-Gesetz gemeinten Sache orientieren und nicht am Kaufmannsziel Numero Uno, dem Ummünzen. Wer glaubt, zu profitieren, indem er eines der besten Medien im Land kleinzukriegen versucht, den mag ich nicht Verleger nennen. Dass der große ORF umfassend verpflichtet wäre, allen an Qualität interessierten Medien (und nein, das sind NICHT alle Medien) aufzuhelfen und mit ihnen fair zu kooperieren, müsste sich hingegen von selbst verstehen.


Ich breche hier ab und setze vielleicht morgen fort, es gibt ja noch einiges zu Denglers Argumenten und zum Thema „blaue Seiten“ zu sagen. Derweil halte ich weiter meine, wenn auch antiplatonische Wacht.


Distance, hands, masks, be considerate!

Ihr Armin Thurnher

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