Könnte man mein Denken zeigen, sähe man eine Halde.

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 703

Armin Thurnher
am 14.04.2022

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Die tägliche Produktion einer Kolumne fordert mir einiges ab, ich gebe es zu. Die Seinesgleichen-Kommentare für den Falter jede Woche schreiben sich auch nicht von selbst, und kaum hat man einen freien Sonntag, wartet die Verpflichtung, ein Maily zu verfassen. Es gibt immer was zu tun, wie der Baumarkt-Werbung weiß. Ich jammere nicht, ich sudere nur.

Zum Beispiel kann ich den Zustand meines Inneren am Aussehen meiner Bibliothek einschätzen. Das Um- und Einräumen von Büchern spielt im Leben denkender Menschen meiner Generation noch eine große Rolle. Digitale Halden digitaler Horden (Kohorten) stelle ich mir lieber nicht vor. Kaum besitze ich ein E-Book, habe ich schon vergessen, dass ich es besitze. Gerade auf Reisen kommt es mir wieder in Erinnerung, aber wer reist schon heutzutage. Ich, zum Beispiel, demnächst nach Slowenien und dann nach Venedig, zur Biennale.

Vor die Reisen aber haben die Buchgötter das Räumen gesetzt. So vergesse ich, was ich gerade über mein Inneres sagte. Selbsterkenntnis ist die Vorstufe zur gelingenden Verdrängung.

Ich betrachte meinen Schreibtisch und denke mir, ich hatte vor und habe noch immer vor, hier mitunter auch Bücher kurz zu besprechen. Das kommt ganz gewiss, wenn es nicht eh schon da war.

Heute beginne ich einmal damit, meinen Schreibtisch aufzuräumen. Es lässt sich absehen, dass ich damit in absehbarer Zeit nicht zurande komme, also werden es vielleicht zwei Folgen, wer weiß, vielleicht mehr.

Der Haldencharakter all meiner Denk- und Schreiborte  sollte mir zu denken geben. Um wohlfeile Ausreden sind Messis selten verlegen; eine wäre mein öffentlicher Austausch von Lyrik mit dem als Kronenzeitungsredakteur bekannten Claus Pándi. Er führt dazu, dass Gedichtbände schneller aus dem Regal geholt werden, als sie zurückgestellt werden können. An manchem bleibt man dann hängen und möchte weiterlesen. Als altmodischer Mensch scanne ich die Gedichte, statt bloß in sie hineinzufotografieren, und so liegen sie noch da, die gesammelten Gedichte Günther Eichs, dessen großartige „Latrine“ einem nie mehr aus dem Kopf geht, hat man sie einmal gelesen. Sätze von ihm wie: „Die Scham, dass der Überlebende recht hat, / enthoben der Entscheidung / und mit dem Hochmut des Urteils“ markieren eine Gefahr, der man nicht entgehen kann, die man sich aber zumindest bewusst halten muss. Eich immer wieder lesen.

Die drei Jans liegen übereinander, ein Würfelwurf des lyrischen Zufalles: Jan Skácel, Jan Wagner und Ernst Jandl. Kein besonders guter Witz, aber immerhin ein Versuch. Ich gehöre zu denen, die auch im Angesicht des Todes eine blöde Pointe zu setzen versuchen werden.

Russische Lyrik ist naturgemäß üppig vorhanden, als Gegengift gegen grassierende Russophobie. Der große Emigrant Joseph Brodsky, die große innere Exilierte Anna Achmatowa und der große Verfolgte, Verstoßene, Ermordete Ossip Mandelstam. Man muss russische Dichter lesen hören, sagte Michael Krüger, ihr kraftvoll manisches rhythmisches Skandieren …

Dazu naturgemäß Puschkin, der größten einer, dabei lasse er sich nicht adäquat übersetzen, heißt es. Russische Kultur: wenn ich überlege, welche Bücher ich in eine geplante und nie geschriebene Serie „Was man gelesen haben sollte, ehe man stirbt“, aufnehmen würde, fallen mir zuerst Russen ein. Tolstoi, Turgenjew…

Von Turgenjew hat gerade Hans Christoph Buch in der NZZ behauptet, dieser habe Putin schon vor 150 Jahren charakterisiert, in Gestalt eines schlauen Bauern: „Er weiss, dass er lügt, und glaubt selbst an seine Lügen: eine Art von Sinnesrausch und dichterischem Entzücken kommt über ihn – es sind keine einfachen Lügen, keine bloßen Prahlereien mehr, die er von sich gibt. Er ist von sich selbst überzeugt.“

„Last Chapter and Worse“, Zeichnungen von Gary Larson (The Far Side), die muss man Blatt für Blatt anschauen, Lukas Resetarits hat mir das Buch mitgebracht, wahrlich ein würdiges Gastgeschenk. Lyrik überwiegt zwar, aber es liegen auch CDs und Essays herum. Habe gerade „Wut“ gelesen (aktuellen Bestsellern ziehe ich immer um ein Jahr verspätete vor. Für Putin brauche ich derzeit nur Robert Misik, obwohl naturgemäß Catherine Beltons Ziegel bereitliegt). Bob Woodwards Trump-Reportage, knapp, amerikanisch, nüchtern erzählt, gewinnt hingegen mit jedem Tag neue Aktualität, da die Midterm-Elections nahen und Joe Biden schwächelt. Washington burns, as Donald returns.

Da liegt passenderweise neben Adornos Minima Moralia und Blochs Erbschaft dieser Zeit (zwei Kandidaten für die Hunderter-Liste) auch Heidi Kastners Aufsatz über Dummheit (ihr explizites Beispiel für Dummheit: solche wie Trump wählen) und darunter gut versteckt die Manesse-Ausgabe von Erasmus von Rotterdams Lob der Torheit. Die Befunde sind verblüffend aktuell, die Hoffnung wie immer dürftig, aber unabweisbar. Dummheit siegt auf allen Linien, im Moment verbindet sie sich mit der Gewalt, mitunter der Gewaltlust, sagt Kastner. Und das einzige Kraut, das gegen sie gewachsen ist, regierende Dummheit abzuwählen, funktioniert oft nur sehr verzögert.

Damit bin ich am Ende der Kolumne, aber nicht einmal bei der Hälfte des Schreibtischs angelangt. Es besteht also die Gefahr, dass der Räumbericht fortgesetzt werden kann.


Distance, hands, masks, be considerate!

Ihr Armin Thurnher

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