Die Ahnungslosigkeit der Akteure in der Covid-Pandemie. Oder: Was könnten wir besser machen?

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 478

Armin Thurnher
am 26.07.2021

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Ein leichter Dissens zwischen dem Epidemiologen und seinem Gastgeber tut sich auf, aber es ist nichts Ernstes. Fern sei es von mir, Pessimismus zu verbreiten, nur weil ich den Weltuntergang stündlich erwarte. Eines ist sicher: es liegt an uns, an jedem von uns, an unserem Verhalten, ob wir die Pandemie in den Griff kriegen oder nicht. Und an den Institutionen; kritisieren müssen wir beide. Was wir uns nicht leisten sollten, ist, was Zangerle so formuliert: „Der inflationäre Umgang mit dem Begriff Impfwilligkeit setzt sich aus Ahnungslosigkeit über das Verhalten der Menschen, aus P.R. über die Erfolge der Politik und aus Desinteresse am sozialen Gefüge zusammen“. Da sind wir uns wieder einig. A.T.

»Im Vorspann zur letzten Seuchenkolumne schreibt mein Seuchenheiliger „es ist durchaus möglich, dass die „Ruhe“ in den Krankenhäusern wieder in einen Sturm mündet.“ Solche Sätze mag ich gar nicht, obwohl es genauso des Öfteren hier thematisiert wurde, vor allem in der nicht leicht zu lesenden Kolumne zu den Folgen der Impfskepsis. Die Bevölkerung hat es in der Hand, einen schlimmen Herbst/Winter abzuwenden, deshalb transportieren Andeutungen düsterer Möglichkeiten möglicherweise ungerechtfertigten Pessimismus, den es als self fulfilling prophecy doch zu vermeiden gilt. „Wie jeder Bürger erhoffe ich mir, dass es in diesem Jahr nicht zu einer Winterwelle mit vielen schweren Fällen kommt. Auch ich wünsche mir, dass nicht noch einmal Einschränkungen des gesellschaftlichen Lebens notwendig werden“, zwischen dieser Äußerung von Christian Drosten und mir passt nicht das dünnste Papier. Und weiter: „Ich bin aber zunehmend besorgt über den Impffortschritt.“ Österreich mit nahezu identischer Impfrate wie Deutschland sieht das gänzlich anders. Bundeskanzler Sebastian Kurz wusste schon Anfang April, dass bis zum heutigen Tag alle geimpft sein werden („In 100 Tagen sind alle geimpft“). Übertreibt Christian Drosten also?

Während die Abdeckung mit einer Vollimmunisierung zwischen Österreich und seinen westlichen Nachbarn recht ähnlich ist, unterscheidet sich in den letzten Wochen der Rückgang der verimpften Dosen: in der Schweiz seit gut 6 Wochen, in Deutschland seit 5 Wochen und in Österreich sind es gerade 3 Wochen, dafür läuft es bei uns dramatischer, und es betrifft vor allem die Erstimpfungen. Was passiert da gerade in einigen Ländern Europas? Jetzt sind wir mit der ganz großen Herausforderung konfrontiert, die bei allen Impfkampagnen in den letzten Jahrzehnten zu einem recht späten Zeitpunkt auftritt, nämlich, wenn die Zahl der „Impfwilligen“ kleiner wird und es höchst an der Zeit ist, sich um die „Impfverweigerer“ zu kümmern. „Willig sein“ und „verweigern“ sind aber keine Begriffe aus Public Health, wo man gelernt hat, die riesige Spannbreite der Einstellungen zu Impfungen in verschiedene Gruppierungen zu kategorisieren : das „Willigsein“ und das „Verweigern“ sitzen an den beiden Enden des Spektrums der Impfbereitschaft. Der inflationäre Umgang mit dem Begriff Impfwilligkeit in der Öffentlichkeit setzt sich aus Ahnungslosigkeit über das Verhalten der Menschen, aus P.R. über die Erfolge der Politik und aus Desinteresse am sozialen Gefüge zusammen.

Als ob es nicht schon genügend so genannte Gräben gäbe, die das Gemeinwesen durchziehen und zersetzend auf dessen Einheit wirken, etwa jener zwischen Stadt-Land, zwischen Arm und Reich, zwischen links und rechts, zwischen Alteingesessenen und Neu-Angekommenen und neuerdings zwischen Impf-Skeptikern und Impf-Turbos. Unnötig zu sagen, dass Verantwortliche in Politik und Gesellschaft ihr Scherflein zur Vertiefung beitragen, auch wenn sie vom Zuschütten sprechen. Die Pandemie traf nicht nur in der Schweiz, sondern auch in Österreich ausgerechnet jene am härtesten, die schon vorher wenig zum Leben hatten. Also gibt es viele Gründe, wieso der Zugang zur Impfung auch wegen mangelnden Vertrauens oft weder direkt noch leicht ist.

Verkompliziert wurde die Situation durch die Verknappung an Impfstoff, sodass der Druck der Impf-Turbos das Problembewusstsein um den Zugang für die weniger Impfwilligen in Impf-Krisenmanagement und Politik über die letzten Monate verkümmern ließ. Obendrauf im Augenblick jetzt der enorme Druck, in der Ausbreitung der Delta Variante besonders schnell zu impfen, was wiederum die Impfwilligsten bei den Jüngeren bevorzugt. Am 3. März stand in der Seuchenkolumne Folgendes: All das hat einen „Touch von First come, first serve, das nicht den Prinzipien von Public Health folgt. Dazu braucht es schon zusätzliche Maßnahmen, um Gerechtigkeit und Effizienz zu steigern. Am Ende des Tages (Sommer!) wird man von Tür zu Tür gehen (müssen), um möglichst viele für die Impfung gewinnen zu können. Da werden ortsnahe unterstützende Organisationen und Vereine für Soziales viel Arbeit haben“.

So möchte ich den Bürgermeister von Umhausen im Ötztal fragen, wie kräftig er die sozialen Vereine unterstützt hat, um die Bevölkerung ausreichend über die Impfung gegen Covid zu informieren. Umhausen hat nämlich eine sehr niedere Impfrate, obwohl diese Gemeinde im Frühjahr sehr aufgefallen ist, weil dort eine mehrwöchige Ausreisetestung notwendig wurde, die erst am 9. Juni endete. Zufall? Möglich. Jedenfalls erklärt die Rate der „Genesenen“ nicht die geringe Rate an Geimpften. In der Salzburger Gemeinde Kuchl ist ebenfalls eine niedere Impfrate zu beobachten. Kuchl stand viele Tage im nationalen Rampenlicht, man würde annehmen, dass so etwas sensibilisiert. Man kann nicht ausschließen, dass sich dort viele angesteckt haben, aber das ist so lange her, dass die „Genesenen“ längst auch geimpft sein sollten. Auch hier wäre interessant zu erfahren, wie das die Gemeinde und ihre Verantwortlichen sehen.

Die Österreichkarte schaut nicht so aus, wie es die Politik versprochen hatte: „Die Impfung kommt zum Menschen“ und nicht umgekehrt. So sind in mehreren burgenländischen Gemeinden bereits drei Viertel der Einwohnerinnen und Einwohner zumindest einmal geimpft. In Kärnten (z.B. Bezirk Spital a.d. Drau), Oberösterreich (Innviertel, östliches Mühlviertel) und Tirol gibt es dagegen einzelne Gemeinden, wo nicht einmal ein Drittel der Bevölkerung den ersten Stich erhalten hat. In Wien gibt es starke regionale Unterschiede mit höherer Impfdisziplin in wohlhabenderen Stadtvierteln und niedrigeren Impfraten in Arbeiter- und Ausländerbezirken wie Favoriten, Simmering und Rudolfsheim-Fünfhaus.

Österreich hätte sich auf diese Probleme eigentlich besser vorbereiten müssen, weil Österreich im „impfunwilligsten“ Kontinent ganz offenkundig zu den eher „impfunwilligen“ Ländern gehört. Bei uns ist die Impfabdeckung im europäischen Vergleich auch bei anderen Infektionskrankheiten niedrig. Das legt durchaus nahe, dass die aktuelle Differenz in der COVID-Impfabdeckung zwischen Österreich und anderen europäischen Ländern zeigt, dass wir bei Covid vergleichsweise eh nicht so schlecht unterwegs waren, aber dass die letzte Wegstrecke hier besonders schwierig wird und verstärkte Anstrengungen erfordert. Selbst in Ländern, deren „Impfwilligkeit“ generell höher ist und die bei der Impfung gegen Covid sehr hohe Impfabdeckungen erzielen konnten (Großbritannien und Spanien), wurden zum Beispiel die Menschen ab einem gewissen Alter direkt und persönlich von lokalen Vertretern des Gesundheitswesens kontaktiert, um eine Impfung zu besprechen oder ihnen eine Impfeinladung zukommen zu lassen.

Inzwischen kursiert eine Unzahl an Vorschlägen, wie man der misslichen Lage Paroli bieten kann. Sie zeigen aber, dass man sich auf diese Phase der Impfungen sehr spät vorbereitet hat und dass Expertise aus Marketing, Marktforschung und bloßes Krisenmanagement über Public und Community Health dominiert. So verstehe ich die „Expert Opinion“ der COVID-19 Future Operations Plattform als Antwort auf die allzu stark auf Marketing und Marktforschung orientierte Impfkommunikation durch das Gesundheitsministerium.

Das ist alles grundvernünftig, und ich kann das natürlich auch alles unterschreiben. Aber wieso erst jetzt? Und wieso wurde eine Analyse der österreichischen Impflogistik ausgespart? Sind z.B. die zentralen Vereinbarungen, über das Monopol der Auslieferungen über den Großhandel und das damit verknüpfte, gut dotierte (!) Monopol des Auftauens der Impfstoffe durch den Großhandel nicht mitverantwortlich für die unzureichenden Belieferungen der Hausärzte? Da liegt der Verdacht des politischen Appeasements nicht fern.

Zum Stopfen von „Impflöchern“, im englischen pockets of unvaccinated diente in der letzten Seuchenkolumne zur Veranschaulichung das Schweizer-Käsemodell, um zu zeigen, dass ohne ein gleichzeitiges Nebeneinander von vielfältigen Impfmöglichkeiten, im Sinne von Gemeinschaft gemeindenah, kaum a) möglichst viele erfasst und b) nur so größtmöglicher Bevölkerungsschutz hergestellt werden könnten. Das ist im Augenblick nirgends wirklich umgesetzt (z.B. ein Impfbus im Bundesland u.v.a.)

Ob das Schweizer-Käsemodell hier taugt? Beleuchten wir die Entstehung des Schweizer-Käse Modells ein wenig, um das zu klären. Vor mehr als 10 Jahren fiel mir der Begriff des Schweizer-Käse Modells auf, der mich aber nicht sonderlich interessierte, weil ich grafische Darstellungen von komplexen Materien zur Veranschaulichung ob ihrer simplen Gestaltung ablehnte. Bei HIV versinnbildlichte das Schweizer-Käse Modell die Kombinationsprävention, bei der es schwierig und auch unmöglich ist, die Effekte einzelner Maßnahmen zum Schutz und schon gar nicht die Interaktionen der verschiedenen Maßnahmen zueinander (additiv vs. synergistisch) exakt zu benennen. Das Schielen auf ein Magic Bullet war immer auch Teil von Kampagnen, bei Covid ist das noch schlimmer. Zuerst betrachtet man Massentestungen als alleinseligmachende Lösung, dann löst das Impfen alle Probleme. Dabei verlor man aber jeweils die Verzahnung mehrerer Faktoren ineinander und deren immense Bedeutung aus den Augen.

Das Schweizer-Käsemodell stammt von James Reason, einem englischen Psychologen, der sich der Fehlervermeidung, vor allem auch in der Medizin, widmete. In seiner häufig (2500x!)  zitierten Arbeit  im British Medical Journal aus dem Jahr 2000 betrachtet er einen Schaden oder ein Unglück auf zweierlei Weise:  als Personen- oder als Systemfehler. Im Verständnis von Unfallursachen grenzt sich Reason vom jahrelang angewandten Personenansatz ab, wo die unsicheren Handlungen oder Unterlassungen von Personen als Folgen von Vergesslichkeit, Unaufmerksamkeit, schlechter Motivation, Nachlässigkeit, Fahrlässigkeit und Leichtsinn gesehen werden. Seine Theorie von „Symptomen versus Ursachen“ schlägt vor, statt das Augenmerk besonders auf die offensichtlichen, zum Unfall führenden Fehler zu richten, deren Gründe an der Wurzel zu untersuchen; denn unsichere Handlungen und unsichere Bedingungen seien lediglich Symptome. Später hat er zugestanden (eigentlich befürchtet), dass die Suche nach vorausgehenden, organisatorischen oder systemischen Fehlern z. B. auf Design-, Management- oder Planungsebene, die eigentlichen menschlichen Fehler am Ende des Ereignisses überdecken könne.

Das Schweizer-Käse-Modell vergleicht Sicherheitsebenen mit hintereinanderliegenden Käsescheiben https://de.wikipedia.org/wiki/Schweizer-K%C3%A4se-Modell . Die Löcher im Käse wie etwa beim Emmentaler (der schmackhaftere Bregenzerwälder Bergkäse eignet sich aufgrund seiner Locharmut nicht für das Modell) sind ein Bild für die Unvollkommenheit von Sicherheits- oder Schutzmaßnahmen in einem Sicherheitssystem. Die Käselöcher als Schwachstellen können unerwartet ihre Größe und Lage verändern. Bei einer ungünstigen Kombination vieler ursächlicher Faktoren entwickeln sich einzelne Fehler zu Schäden, Unfällen oder katastrophalen Folgen, dann liegen die Käselöcher auf einer Linie und es entsteht die „Gelegenheit zu einer Flugbahn“, die alle Sicherheitsbarrieren überwindet. Als wesentliche Limitation des Schweizer-Käse-Modells wird das Fehlen von Details gesehen, wie die Löcher der verschiedenen Käsescheiben wechselwirken. Man sollte daher das Schweizer Käse Modell eher als nützliche Metapher denn als ein wirkliches Modell auffassen. Die Analysen und Hypothesen von James Reason kann man auch nicht auf das Schweizer-Käse Modell reduzieren. Mit einer Zwischenüberschrift aus seinem berühmten Artikel möchte ich heute aufhören: „Blaming individuals is emotionally more satisfying than targeting institutions“.« R. Z.

Morgen beschäftigt sich eine weiter Folge mit gesunder Luft.


Distance, hands, masks, be considerate!

Ihr Armin Thurnher

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