Zu Österreichs politischer Misere: Wenigstens die Ablenkung hat Niveau!

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 455

Armin Thurnher
am 29.06.2021

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Ich weiß nicht, wie lange wir unsere Niederlage bei der Europameisterschaft noch genießen werden, hoffentlich noch lange. Wenngleich das Schweizer Vorbild uns an Eleganz und Effizienz übertrifft.

Inzwischen können wir eine politische Zwischenbilanz ziehen. Resumee: erschreckend. Es ist nicht neu, dass Macht sich in zweifelhafte Machinationen verstrickt. Was aber in unserem österreichischen Spezialfall besonders unangenehm wirkt, ist die völlige politische Ziellosigkeit oder vielleicht auch die perfekte Camouflage, der Regierenden, aber auch der Opposition. Wer weiß, was Kurz und die Seinen politisch wollen, außer, sich da oben zu halten?

Ist das egal? Nein, das ist nicht egal. Denn die Richtung, die eine Gesellschaft nimmt, wird nicht nur, aber schon auch von der politischen Spitze bestimmt. Und das Gespräch über diese Richtung sollte sie prägen. Nur – wo ist es?

Verba docent, exempla trahunt – Wörter belehren, Beispiel reißen mit. Eine moralisch implodierte postbürgerliche Führungsschicht, was wird sie in einer Gesellschaft bewirken? Ein Parlamentspräsident, der mit frechem Grinsen regiert, ein Finanzminister, der in Buberlmanier das Parlament provoziert, ein Kanzler, der nur in Fototerminen und Publicity-Stunts denkt und verzweifelt gegen das Sinken seiner Reputation im Ausland kämpft (das schadet der geplanten Karriere nach der Politik, wo es dann ums echte Geld geht) – das sind schreckliche Bilder, die für eine ungekannte politische Ödnis stehen. Dazu eine in großen Bereichen offenbar für türkise Herrschaftszwecke hergerichtete Justiz. Dazu durch Inseratengeldkorruption lahmgelegte Leitmedien. Dazu ein teilentzahnter öffentlich-rechtlicher Rundfunk.

Man wird müde, wenn man sich das alles vor Augen führt, auch wenn einen Etappensiege ermuntern. Aber was ist ein Beschluss des Handelsgerichts für Florian Klenk und den Falter und gegen das NVP-Propagandamedium Zur Sache und dessen Chef Claus Reitan? Es ist erfreulich, dass der Richter verstand, dass der stets stolz seine journalistischen Prinzipien vor sich hertragende Reitan genau diese Prinzipien absichtlich missachtete, als er Falsches und Diffamierendes über Klenk verkünden ließ, um diesen zu diffamieren. Und es tröstet nur ein bisserl, dass Klenk Reitans Vorgangsweise nun „hirnbescheuert“ nennen darf.

Es tröstet deswegen nicht wirklich, weil das trumpeske Verfahren, Menschen zu diskreditieren und zu diffamieren, offenbar die Art ist, mit der diese Partei vorzugsweise Politik betreibt. Der Kanzler retweetete persönlich und begeistert Reitans Diffamierung. Der Abgeordnete Andreas Hanger versuchte vor kurzem, auf seine Weise Klenk als korrupt zu diffamieren. Was sind das für Leute, die es nötig haben, Auseinandersetzungen auf jenem Niveau zu führen, das sie selbst ihren Gegner mit einem Wort vorzuwerfen pflegen: anpatzen!

All die Anwürfe können nicht verdecken, dass da keinerlei politische Substanz ist. Mit gekauften Medien kann man das unter einer Bedingung zukleistern: dass die Opposition schwach ist.

Die Sozialdemokratie betrieb auf ihrem Parteitag das Schlimmste, was politisch passieren kann: verdeckte, feige, meuchlerische Opposition. Die Parteichefin hat den Feind im eigenen Haus, aber er gibt sich nicht offen zu erkennen. Bei ihrer Rede standen die Funktionäre und Funktionärinnen begeistert auf, dann strich ihr ein Viertel von ihnen die Zustimmung, andere (oder die gleichen) trollten sich, sodass man nicht einmal mehr beschlussfähig war. Ein Debakel. Das kommt davon, wenn man Politik nur auf Personalfragen reduziert.

Was wäre dabei, eine Führungsdebatte zu führen? Jeder weiß, dass es Zweifel an der Führungsfähigkeit Rendi-Wagners gibt, warum nicht ins Offene damit? Wenn sich niemand Besserer findet als sie, dann eben nicht. Ein Mindestmaß an Fairness ihrer Chefin gegenüber sollte die SPÖ aufbringen. Aber das Gegenbild zur fast schon sklavischen Vergatterung der Ex-Schwarzen hinter Kurz ist die ebenfalls sklavische Verschlagenheit, mit der die SPÖ seit Alfred Gusenbauer ihre Vorsitzenden demontiert.

Was wäre dabei, eine inhaltliche Debatte zu führen? Zwischen den bloß immer so angedeuteten Fronten, neoliberaler Progressivität und traditioneller Klientelpolitik? Was wäre dabei zu befürchten? Dem türkisen Vakuum steht eine Phalanx aus rosarotem Schaumgummi gegenüber.

Das alles in einer Medienöffentlichkeit, die nach der Pfeife türkiser Message-Control tanzt.

Dazu die Rechten, die den irrationalen, temporär durch die übliche Korruption in Misskredit geratenen Rand mit dem neuen Mínimo Líder Kickl wiederbeleben (keine Sekunde lang glaube ich, dass der nicht wieder den Innenminister macht und dass Sebastian Kurz, wenn es ihn an der Macht hält, ihn nicht dazu macht).

Die Grünen regieren sich um Kopf und Kragen, indem sie sich scheibchenweise ihre Kernanliegen abmontieren lassen: Menschenrechte mit Abschiebungen und auf Lesbos, Transparenz mit dem Abwürgen des Ausschusses, Kontrolle indem sie das Justizressort mit weicher Hand leiten, und wenn sie Pech haben, werden die Corona-Budgetlöcher auch noch, leider, leider die ökologische Steuerreform verhindern.

Die Neos kritisieren zwar das System Kurz, tun aber auch nicht recht viel, um die einzig mögliche Alternative herbeizuführen, Rot-Pink-Grün.

Ich habe schon schönere Niederlagen gesehen als diese desolate Politikszene. Wenigstens bleibt uns der Fußball, eine Europameisterschaft mit inspirierendem Fußball, einem österreichischen Team, das fast alles richtig gemacht hat, einer unglaublichen Schweiz, die wirklich alles richtig gemacht hat, mit trotz des Eriksen-Dramas vielversprechenden Dänen und heute Abend mit England – Deutschland. Daneben Wimbledon und die Tour de France mit ihren Dramen schon in den ersten Runden und Etappen. Wenigstens haben die Spiele, mit denen man uns von der politischen Misere ablenkt, ein Niveau, das wenig zu wünschen übrig lässt.


Distance, hands, masks, be considerate!

Ihr Armin Thurnher

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