Bund, Länder und die tiefen Wurzeln der Corona-Bekämpfungs-Misere

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 296

Armin Thurnher
am 06.01.2021

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Mit der Klärung von Schuldfragen kann man nie früh genug anfangen. Empidemiologe Robert Zangerle erläutert heute, wie kompliziert die Verantwortlichkeiten zwischen Bund und Ländern verlaufen. Er macht klar, dass der Bund zwar nicht an allem Ungemach die Schuld trägt, jedoch Anfang März seine Informationspflicht eklatant verletzte. Aber die Länder haben – nicht nur bei Ischgl – ihr gerüttelt Maß Anteil an der Misere. Eines steht fest: es gibt keine Unschuldigen!   A.T.

»Ist der „Epidemische Föderalismus“, diese komplexe Verantwortungsmatrix zwischen Bund und Ländern, ursächlich für die vielen Fehlentscheidungen der Corona Politik oder nur der Spielball anderer, oft nicht erkennbarer Interessen? Diskutieren wir anhand von Ausschnitten zweier Beispiele den Diskurs dazu. Ich hoffe natürlich nicht, dass ich mich damit einem deutschen Herausgeber annähere, der den Verlust von 2000 Abos wegen seines letzten Leitartikels mit Stolz kommentierte. Die Seuchenkolumnen kommen mir ein wenig anmaßend vor, wollte sie deshalb schon mehrfach stoppen, wäre da nicht ein „schwaches Dutzend“ Freunde, die meine Arbeit mit „ganz gut, einen Pensionisten in unserem Umfeld zu haben“ kommentieren.

Erstes Beispiel, der so schwierige Schutz der Bewohner von Pflegeheimen vor Covid-19. Hier scheint die Diskussion ganz allgemein polarisiert, unabhängig von unserem Kompetenzdschungel. So wurde in Deutschland von manchen Medien, selbst von zwei bekannten Virologen „ … suggeriert, die GfV (Gesellschaft für Virologie, Anm.) hätte sich gegen den bestmöglichen Schutz von Wohn- und Pflegeheimen ausgesprochen. Diese Darstellung ist falsch … De facto sind also weite Teile der Bevölkerung in Deutschland den Risikogruppen zuzuordnen. Dementsprechend ist eine allein auf diese Gruppen abzielende Abschirmungsstrategie in der Realität weder umsetzbar noch ethisch vertretbar“. Auch Christian Drosten wurde der Vorwurf gemacht, sich nicht um die Pflegeheime zu kümmern. Wenngleich ich überhaupt keine vergleichbare Expertise, Funktion oder Wirkung habe, so glaube ich, mich (und indirekt damit auch Drosten) schon damit rechtfertigen zu können, dass „wenn alle sich schützen und geschützt werden, sind auch die Älteren am besten geschützt, keine Gesellschaft hat das anders hinbekommen.“

So wurde in dieser Kolumne wiederholt argumentiert. Ergänzend empfahl ich jedoch FFP2 Masken bereits am 31. 5., wiederholte diese Empfehlung dringlich für besonders Gefährdete wie Bewohner von Pflegeheimen am 29.9., 1.10. und setzte am 18.10. noch eins drauf: „Rufe nach FFP2 Masken für diese Personengruppe verhallen ungehört“. Das European Centre for Disease Prevention and Control ECDC untermauert in einem Bericht vom November  den Zusammenhang zwischen dem allgemeinen Infektionsgeschehen und den Todesfällen in den Pflegeheimen sehr anschaulich auch in der folgenden Abbildung

Schwedens große Zahl an Todesfällen sei nur ein ungelöstes Problem seiner Pflegeheime; das wurde weltweit kolportiert. In der Wirklichkeit ist es aber so, dass der relative Anteil der Pflegeheimbewohner an den Gesamttodesfällen sich zwischen Schweden und Österreich weder im Frühjahr noch jetzt im Herbst wesentlich unterscheidet. Es ist somit ein allgemeines Phänomen Europas. Die absolute Zahl der Todesfälle in den Pflegeheimen ist umso größer, je mehr Todesfälle es insgesamt gibt. Waren der Anteil von 34% unter allen Todesfällen bis zum 5. Juni eine relativ kleine Zahl, so sind die 42% aller Todesfälle bis zum 20. Dezember eine verheerend riesige Zahl, weil bis dahin fast 5500 Menschen an Covid-19 verstorben sind. Die 3000 Nicht-Pflegeheimbewohner, die im November und Dezember gestorben sind, schockieren gleichermaßen.

Schaut man sich das Infektionsgeschehen der letzten Monate in den verschiedenen Altersgruppen an (Vorsicht vor Überinterpretation, Positivitätsrate der einzelnen Gruppen unbekannt), so sieht man, dass es im September höchste Zeit gewesen wäre, sich um die vollständige Umsetzung schützender Maßnahmen (FFP2 Masken, Tests v.a. bei Personal) zu kümmern. Das war die Zeit, als die oberösterreichische Ärztekammer ihre Tagung zum „Labortsunami“ abhielt. Ich sah und sehe weiterhin die Heime durch die Landesregierungen arg im Stich gelassen.

 

Quelle: AGES

Die Kärntner Landesregierung rechnete damit, dass entweder eine FFP2-Maske oder ein negativer Test notwendig sein wird, und nach der neuen Verordnung, brauchte es nun beides. Das hätte man Monate vorher schon so sehen können, aber LR Beate Prettner sah das als „praxisferne Verordnung“ des Ministeriums. Genau darüber und einen dazu passenden Link zur Kolumne über die Massentestung setzte ich kürzlich einen Tweet ab. Dabei bin ich aber Werner Reisinger, ehemals bei der Wiener Zeitung, jetzt Korrespondent bei der Augsburger Allgemeinen, offenbar zu sehr in die Quere gekommen. Er unterstellte meiner Meinung, dass Landesregierungen mehr Verantwortung für Pflegeheime tragen als die Bundesregierung, gleich EINIGE Fehler. Da es hier um eine Meinung ging, und nicht um Fakten, und diese Meinung nicht mit humanistischen oder menschenrechtlichen Aspekten kollidierte, halte ich es generell für unzulässig, einer fehlerhaften Meinung bezichtigt zu werden. Welche Meinung darf es denn sein, Herr Reisinger? Eine kritischere gegenüber der Bundesregierung, egal was Sache ist? Da muss es natürlich als Provokation empfunden worden sein, dass ich in der verlinkten Kontrolle sogar Nationalräte der Opposition ob ihrer maßlosen Kritik an der Bundesregierung, wohlgemerkt in dieser singulären Angelegenheit, scharf kritisierte. Vor welchen Karren sollte ich denn gespannt werden? Mit solchen unhaltbaren Anwürfen auf Twitter konfrontiert, sah ich endlich den Zeitpunkt gekommen, meinen Twitter Account zu löschen. Große Dankbarkeit für diesen Anstoß halte ich aber für übertrieben.

Die Verantwortung zu Ischgl („pronounce: Ish-gul“) wird ebenfalls sehr kontrovers diskutiert: Von „Haben alles richtig gemacht“ bis Gefängnis, alles zu vernehmen. Ich wollte mich dazu nie äußern, aber ein „Zangerle“ muss sich irgendwann Ish-gul schon stellen, ist doch der Urgroßvater von dort übers Zeinis-Joch nach Partenen gezogen. Wer hat zu Beginn des Ausbruchs in den ersten Märztagen mehr Verantwortung, Bund oder Land? Dazu muss ich weit ausholen und Ihnen über einen schleichenden Ausbruch von Legionellose (Legionärskrankheit) in einem Tiroler Dorf berichten.

Die Legionellose ist eine bakterielle Infektionskrankheit, die meist Lungenentzündungen hervorruft und über temperiertes Wasser (25-50°) via Tröpfchen und Aerosole und nicht von Mensch zu Mensch, aber meist in Hotels, Krankenhäusern und anderen Institutionen übertragen wird. Sie hat eine Inkubationszeit, bei der man im Mittel nach 6 Tagen erkrankt, sodass sehr häufig die Betroffenen (Urlauber!) zum Zeitpunkt der Erkrankung bzw. dann wenn die Erkrankung sie zum Arzt führt, nicht mehr am Ansteckungsort verweilen. So spielte es sich auch über Jahre in einem kleinen Tiroler Dorf ab, wo es lange brauchte, vor allem neu aufgebauter über Europa verstreuter Netzwerke bedrufte, die solche Meldungen zusammen trugen. Dieser Erfolg wurde 2004 in Lancet publiziert, mit der Forderung nach prinzipiell nationaler Kontrolle von Ausbrüchen. In dieser Arbeit standen aber noch andere interessante Einschätzungen, die wenn ich mich nicht täusche, immer noch gelten.

Ein Ausbruch ist also eine nationale Angelegenheit, und man musste lange vor den ersten Märztagen damit rechnen, dass Meldungen von rückkehrenden Urlaubern zu Beginn eines Ausbruchs eintreffen und dass solche Meldungen von eminenter Bedeutung sein werden, einerseits ganz allgemein für die Prävention und andererseits für die Unterbrechung von Infektionsketten. In der Nacht vom 4. auf den 5. März gab es dann die Warnung aus Island über das europäische Early Warning and Response System (EWRS)  (EWRS). Die Bundesregierung, zuallererst natürlich das Gesundheitsministerium, hätte also spätestens am 5. März die Pflicht gehabt (meine Laienmeinung sagt, auch die juristische Pflicht), die Bevölkerung aufzuklären, zumindest darüber, dass es einen starken Verdacht gibt, dass sich Urlauber während des Skiurlaubs mit SARS-CoV-2 in Ischgl angesteckt haben und dass deshalb auch Rückkehrer aus Ischgl auf SARS-CoV-2 getestet werden sollen, wenn sie Symptome aufweisen. Das blieb wegen ausbleibenden Handlung der Regierung jedoch praktisch unerlaubt. Auch das ist skandalös, für Beteiligte in Tirol könnte es jedoch juristisch einen Freibrief bedeuten. Wir witzelten, „liegt Ischgl nicht in der Lombardei?“, weil dann nämlich das Testen möglich gewesen wäre. Jedenfalls war mir das am 5. März klar (bis dahin hatte ich mich wenig mit Covid-19 beschäftigt!) und ich informierte noch praktizierende Freunde in Deutschland darüber.

Einer schrieb mir am 10.3. zurück, dass er eine Ärztin betreue, die sich nach allem Ermessen in St. Anton angesteckt haben muss. Sehr irritiert über fehlende Informationen und das Nichthandeln informierte ich am 11. März eine Tageszeitung, dass mindestens drei Länder rückkehrende Urlauber aus zwei Orten mit Covid-19 identifizierten (Dänemark hatte an diesem Tag die Reisewarnung von Ischgl auf ganz Tirol ausgedehnt) und dass es gälte, SOFORT alle Après Ski Lokale Österreichs zu sperren .

Das Wissen um Gefahren durch Pandemien ist selbstverständlich zentral in größerem Ausmaß vorhanden als in der Peripherie. Und Epidemiologen war auch die Gefahr von Interessenskonflikten vor Ort klar. Niemand erwartet medizinisches Wissen von einem Hotelier. Es ist eher amüsant, wenn der Ischgler Hotelier Günther Aloys meint, Covid-19 sei „nichts anderes als eine Grippe, die für die allermeisten nicht tödlich ist“. Wir erwarten von einem Hotelier in Grado auch nicht, dass er uns den Unterschied zwischen Hepatitis A und B erklärt.

Weniger amüsant finde ich schon, dass der ORF einen solchen Ahnungslosen mit seiner medizinischen Einschätzung zitiert, ohne fachliche Kommentierung durch Expertise. Der ORF, ein Verlautbarungsorgan von Hoteliers? In der ganzen Häme der Medien gegen den Habe-alles-richtig-gemacht-Landesrat Bernhard Tilg wurde die wesentlich höhere Verantwortung der Bundesregierung außer Acht gelassen. Manche Medien, offensichtlich auf der Suche nach Schuldigen, überhöhten den Einfluss der „Adlerrunde“ massiv, als ob Liftbesitzer oder Teilhaber von Bergbahnen einen Verein wie die Adlerrunde bräuchten. Weder Peter Schröcksnadel (Teilhaber mehrerer Skigebiete), noch die Firma Fröschl (Axamer Lizum), noch gar der größte private Liftbetreiber Österreichs, Heinz Schultz sind Mitglieder der Adlerrunde. Immerhin hat schon ein Landesrat zurücktreten müssen, weil er günstig in einer Penthouse-Wohnung von Heinz Schultz in der Innsbrucker Innenstadt wohnen durfte.

Bis auf eine Ausnahme scheint bei der Bundesregierung nicht ernsthaft nachgefragt worden zu sein: „Wenig gesprächsbereit zu diesem neuen Fall zeigte sich die Kommunikationschefin des grünen Gesundheitsministers. Mit den Worten ,da ist die Landessanitätsdirektion Tirol zuständig‘ wurde das Telefon aufgelegt.“ Die eigenartigen Meldungen dazu aus Tirol – „vermutlich im Flugzeug angesteckt“ – hätten umgehend einer fachlichen Korrektur von Seiten der Bundesverwaltung bedurft.

Reichte der schon 2004 beschriebene Interessenskonflikt in der Ausbruchsbekämpfung bis in die Bundesregierung? Oder war das der Moment, wo Minister Rudolf Anschober nichts sagte, weil seine aus Vorgängerrregierungen „geerbten“ Spitzenbeamten ihn unzureichend informierten, gar hintergingen, er sich damit aber unauflösbar so verstrickte, sodass er in der Folge zwangsläufig dann oft nichts sagen konnte, wenn es brenzlig wurde? Im Gesundheitsministerium sind immer wieder bizarre Dinge passiert. Hier beispielhaft so ein „bizarres Ding“: Die Mutter aller Masterpläne schlechthin dort stammt irgendwie immer noch vom „Pockenalarmplan“. Sie erinnern sich sicherlich an die Anthrax-Anschläge unmittelbar nach 9/11. Diese zogen eine enorme Welle an Bioterrorismus-Initiativen nach

sich und mussten selbst als Grund für den Irakkrieg 2003 mit herhalten, obwohl sie von Mitarbeitern der US-Armee initiiert worden waren. Der juristische Beweis dafür konnte wegen Suizid des Hauptbeschuldigten nicht erbracht werden.

Die folgende weltweite Massenhysterie erreichte auch unser Gesundheitsministerium, wo der damals von der FPÖ bestellte Sektionschef das mit großer Begeisterung aufnahm und sogleich die Ausarbeitung eines „Pockenalarmplans“ in Gang setzte. Das passierte in anderen europäischen Ländern auch, dort wurde aber weniger Energie aufgewendet, offensichtlich sind dort weniger Beamte diesem Drang der Militärs und Geheimdienste dermaßen erlegen. Pocken sind die erste und immer noch einzige gezielt eliminierte Infektion, aber Pockenviren werden immer noch in Beständen der US- und russischen Armee konserviert. Wissenschaftler rufen weltweit alle paar Jahre in einem Moratorium zur Vernichtung dieser Bestände auf.

Wieso ich das erzähle? „Das ist ein bewährtes Modell, das wir auch in Sachen SARS verwendet haben. Allerdings müssen wir natürlich auf die speziellen Charakteristika der Influenza eingehen,“ so erläuterte das Ministerium seine Antwort auf die Vogelgrippe und Influenza . Die viel wichtigere Ausarbeitung eines Grippe-Pandemieplans geschah im Vergleich dazu auf Sparflamme. Was ist ein Grippe-Pandemieplan wert, wenn Hotspots wie Après-Ski-Lokale unerkannt bleiben? Ein Grund sei noch angeführt: Niki Romani’s Expertise am Elektronenmikroskop zur Diagnose der nicht mehr vorkommenden Pocken war gefragt und als diagnostisches Labor für die Erkennung von Pocken im Plan vorgesehen. Es gelang so das alte, reparaturanfällige Elektronenmikroskop für eine lange Zeit wieder funktionstüchtig zu bekommen, und endlich kam Niki in direkten Kontakt mit dem berühmten HIV-Elektronenmikroskopiker Prof. Gelderblom (übrigens vom RKI), dessen Kommentar Sie auf dem Abbild eines harmlosen Kuhpockenvirus lesen können.

Wenn man das alles Revue passieren lässt, kann man kaum glauben, wer da alles vor diesen Karren gespannt wurde und welche Blüten zu beobachten waren. In 20 Jahren sollte man nicht so auf unsere Reaktionen auf Covid-19 zurückschauen müssen.«  R.Z.


Weiterhin: keep distance, wash hands, wear masks, stay human!

Ihr Armin Thurnher

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