Lockdown: Vom Glück zum Pech. Willkommen im Worst Case!

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 243

Armin Thurnher
am 15.11.2020

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Wir hatten Glück beim ersten Lockdown, sagt Virologe Robert Zangerle von der Meduni Innsbruck in seinem heutigen Beitrag. Danach hatten wir das Pech, dass die Regierung dieses Glück für die Folge ihres klugen Verhaltens hielt. Nicht alle Gründe, warum die Krise derart eskalierte, sind jedoch geklärt. Spätestens jetzt müssen wir einsehen, dass die Maßnahmen nicht gereicht haben. Bei der Redaktion seiner Beiträge wird Zangerle übrigens von seinem Kollegen, dem renommierten Immunologen Niki Romani unterstützt. Ich danke beiden sehr herzlich!     A.T.

»Je später Maßnahmen gesetzt werden, desto ungerechter werden sie, also wundern wir uns jetzt nicht. Und dass das „Lockdownerl“ ab 3. November, über die Strenge und Dauer der Schutzmaßnahmen definiert, drei bis vier Wochen früher in Kraft treten hätte müssen, war ebenfalls klar. Weshalb es so kommen musste, ist weniger klar, vermutlich ist es „multifaktoriell“ bedingt. Ein Grund drängt sich besonders auf: die fehlende Aufarbeitung der „ersten Welle“. Die relativ kleine Zahl von an Covid-19 Verstorbenen war dem zeitgleichen Zusammenfallen zweier gewichtiger Umstände zu verdanken, die eine punktgenaue Landung des „1. Lockdowns“ ermöglichten. Einerseits machten die Bilder aus den Intensivstationen der Lombardei die Menschen bereit, sich einzuschränken, andererseits zwang der Druck aus den skandinavischen Ländern, ob der massenhaft infizierten Skiurlauber, die Regierung zum Handeln. Es war also Massel und keine konzeptionelle Meisterleistung, wie sie in den folgenden Monaten oft behauptet und betont wurde, sodass viele, und vermutlich auch die Regierung selbst, davon überzeugt schienen.

Ein weiterer Grund, zwar ein wenig hypothetisch, weil nachhaltige Beweise fehlen, aber durch viele Indizien doch recht wahrscheinlich, ist die weit verbreitete Haltung, die nicht sehr kontrollierte Verbreitung von SARS-CoV-2 einfach geschehen zu lassen. Sie kommt in verschiedenen Formen daher, sei es als fatalistische Formel „wir bekommen es eh alle“, oder als Aufforderung, endlich zu lernen mit dem Virus zu leben und damit „die neue Normalität“ zu akzeptieren. In der jetzigen Krise wird argumentiert, dass es statt eines solchen „absoluten Worst Case-Szenarios eines Total-Lockdowns“ noch andere Wege gebe, die hohen Fallzahlen in den Griff zu bekommen und eine Überlastung der Krankenhauskapazitäten hintanzuhalten – wie etwa jenen vielbeschworenen größtmöglichen Schutz der verletzlichen Bevölkerungsgruppen, also älterer Leute bzw. solcher mit Vorerkrankungen. Gelegentlich kommt das auch direkter daher: „Die Risikogruppen, also vor allem ältere Personen, sollten sich aber endlich an die einfachsten Schutzmaßnahmen wie Abstand und Maske halten. Und dass man auf Kinder quasi losgeht, die überhaupt keine Erkrankung haben…“ . Auch die Oppositionsparteien stellen dem Offenhalten der Schulen den besonderen Schutz der Alten- und Pflegeheime gegenüber. Ist ihnen allen nicht bewusst, dass ihre Positionen von der rein politischen Strategie einer Herdenimmunität, die von „focused protection“ spricht, nur schwer unterscheidbar sind? Wie sollen wir das lange, unnötige Hinauszögern unserer Regierung anders interpretieren, als dass auch sie doch eine – wissenschaftlich unfundierte! – „erhöhte Immunität“ erwartet hat?

Über die Diskussion zu etwaigen Schulschließungen muss man sich überhaupt die Augen reiben. Es ist doch allgemein akzeptierter Konsens, dass eine Schließung der Pflichtschulen und Kindergärten als Ultima Ratio gilt. Die Kampagne der letzten Tage gegen Schulschließungen lässt zum großen Teil außer Acht, dass wir mit diesen falschen Dichotomisierungen  – offene versus geschlossen Schulen – aufhören sollen. Natürlich fanden sich in dieser Diskussion auch hervorragende Vorschläge, und wir hoffen, dass vieles zur Verbesserung der hygienischen Situation, jetzt endlich angegangen wird. Trotzdem wundert man sich, warum diese Diskussion vor der Öffnung im September so mau geblieben ist. Aufgrund der fehlenden Maßnahmen, ganz generell und in der Schule konkret, war es nicht schwer, das Stottern des Schulbetriebs vorauszusagen. Manche Eltern, die ich damit konfrontierte, machten ein langes Gesicht, waren dann aber nicht imstande, die Schulen zum Beispiel zu einem gestaffelten Schulbeginn zu überreden, um katastrophal überfüllte Schulbusse zu vermeiden (vielleicht in Innsbruck besonders arg). Das unbeirrte Festhalten von Minister Heinz Faßmann an vollständigen Klassengrößen und sein absolutes Nein zum Masken tragen während des Unterrichtes trug auch zu einem falschen Sicherheitsgefühl bei.

Dieses unbedingte Offenhalten der Schule durch Minister Faßmann und der Virologin seines Vertrauens erinnert mich an den schwedischen Staatsepidemiologen Anders Tegnell, der im Frühjahr in einer Mail an seinen finnischen Kollegen schrieb: „Eine Maßnahme wäre, die Schulen offen zu halten, um schneller eine Herdenimmunität zu erreichen.“

Damit konfrontiert, wich er aber aus und zog sich reflexartig auf die WHO-Position zurück: „Herdenimmunität anzustreben, ist weder ethisch noch sonst wie vertretbar.“ Tegnell versteht es gut, die Wahrheit als Tochter der Zeit zu verkaufen. Er ist damit längst nicht der einzige „Staatsepidemiologe“. Andererseits scheint er das Framing perfekt zu beherrschen, weil sein Narrativ, dass Schwedens große Zahl an Todesfällen nur ein ungelöstes Problem seiner Pflegeheime wiederspiegle, weltweit weitererzählt wird, so auch von unseren Politikern, wie zum Beispiel im Interview von Beate Meinl-Reisinger in der ZiB2 am 25. Oktober. In der Wirklichkeit ist es aber so, dass der relative Anteil der Pflegeheimbewohner an den Gesamttodesfällen sich zwischen Schweden und Österreich kaum unterscheidet, es ist ein allgemeines Phänomen Europas . Die absolute Zahl der Todesfälle in den Pflegeheimen ist umso größer, je mehr Todesfälle es total gibt. Umgekehrt gesagt, die hohe Gesamtzahl an Todesfällen in Schweden ist also durchaus nicht nur den Pflegeheimbewohnern geschuldet! Deshalb einmal mehr: Wenn alle sich schützen und geschützt werden, sind auch die Älteren am besten geschützt, keine Gesellschaft hat das anders hinbekommen.

Können wir uns darauf einigen, dass wir die Corona-Fallzahlen nie mehr derart eskalieren lassen wie aktuell? Dafür müssen wir aber unser Verhalten in der Phase der Lockerungen solidarischer und vernunftbetonter gestalten, um die Gefahr eines nächsten Lockdowns zu reduzieren. Das wird nicht so leicht werden, zumal das Absteigen vom hohen Ross oft kein leichtes Unterfangen ist. Lassen sie mich das anhand einiger willkürlich ausgewählter Beispiele illustrieren:

  1. Mai, Florian Klenk: „In Wien gibt es derzeit nur rund 500 registrierte Covidfälle, die meisten vermutlich in Quarantäne. Warum müssen eigentlich immer noch 1,8 Mio Einwohner Masken in leeren Zügen und in Shops tragen? Ab welcher Zahl ist das nicht mehr erforderlich?“

    Florian Krammer antwortete: „Ich würde sagen, das kommt drauf an, wie gut das Contact Tracing ist … Aber die Masken beizubehalten ist sicher keine blöde Idee.“

  1. Mai, Armin Wolf: Das Cafe Engländer ist völlig zu Recht weltberühmt in Wien … aber wirtschaftlich wird die Post-Corona-Zeit eine brutale Herausforderung…

    Josef Kalina antwortete: „Die Krise sollte offiziell für beendet erklärt werden…..Die bedrückende Stimmung muss gehoben werden“

  1. Mai, Michael Fleischhacker: „Ich denke, dass sich die Konfusion, die wir derzeit beobachten können, weil sich noch niemand so recht zuzugeben traut, dass die Coronasaison vorbei ist …“

Tröstlich für die Angesprochenen bleibt, dass auch Epidemiologen sich mit der Bewältigung der Pandemie schwer tun, wie das Beispiel Christian Althaus zeigt. Zuerst muss ihn sein Postdoc drängen, die Covid Daten zu publizieren, dann aber beginnt er zu begreifen und sichert seine 3. oder 4. Alterssäule, indem er am 21. Jänner sein Aktienpaket verkauft und sein vielzitiertes Modell zur Covid-19 Pandemie Ende Jänner dann doch veröffentlicht . Verstanden hat er die Pandemie aber erst Wochen später, als das Radrennen Mailand-San Remo abgesagt wurde (vorher nur 1916, 1944 und 1945). Er  und Adam Kucharski, auch ein Top Epidemiologe, stufen die Cluster Analysen der AGES als wertvoll ein, was uns hoffen lässt, dass die Regierung jetzt unmittelbar massiv in das Contact Tracing und den Ausbau des EMS investiert.

Beten hilft übrigens nicht.

Die Lockerung des Lockdowns ab 7. Dezember sollte jedenfalls ausschließlich den Pflichtschulen und Kindergärten vorbehalten bleiben, denn alles andere wäre ein Frevel gegenüber den Schulen.«

R.Z.

Weiterhin: keep distance, wash hands, wear masks, stay human!

Ihr Armin Thurnher

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