Was wir quälen: Bäume, Sprache, Tiere, Wahrheit

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 107

Armin Thurnher
am 01.07.2020

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Heute: ein Himmel, der sich gewaschen hat. Statt anzufangen, diese Kolumne zu schreiben, habe ich ihn zehn Minuten lang angeschaut. Beinahe Windstille, kaum ein Blättchen, das sich bewegt. Die Schatten sind tief, wie bei einem Tag, der heiß wird. Auf dem Hügelrücken vis-à-vis werden vertrocknende Bäume sichtbar. Ich hatte schon geschrieben, sie zeichnen sich ab. Aber sie zeichnen sich nicht ab, sie werden auch nicht abgezeichnet, es handelt sich um etwas, das sie im Radio gerade „Bäume am Limit“ nennen. Sie meinen jene an der Baumgrenze. Ich sehen jene an der Todesgrenze, dorthin geraten durch Austrocknen, durch Käferbefall. Ganze Wälder hier herum wurden zu Brachen, überall stapeln sich gefällte Stämme, stapelt sich geschnittenes Holz.

Ich dachte schon daran, sie abzuzeichnen, aber wer macht heute Landschaftszeichnungen? Wer kann es? Das will geübt sein. Einmal habe ich angefangen, es zu lernen, dann aber leider aufgegeben. Ein befreundeter alter Maler hatte stets ein kleines Skizzenbuch dabei und ein halbes Dutzend Bleistiftstummel, heruntergespitzt auf zwei Zentimeter Länge, in den Taschen seines Sakkos.

Man könnte darüber nachdenken, wie Menschen hergerichtet werden. Wie Entscheidungen getroffen werden, Dinge nicht zu lernen, und wie sich später zeigt, dass der Verzicht fast immer falsch war. Man „braucht“ das nicht mehr. Man zeichnet nicht, man dichtet nicht, man musiziert nicht. Man digitalisiert sich. Ich glaube, man solle vor allem Dinge lernen, die man später nicht mehr braucht. Mythen, alte Sprachen, Handwerk, Fugen Spielen, Kochen. Alles, was man braucht, kommt von selbst dazu.

Der Sprachgebrauch ist so eine Sache. Als Krausianer, also einer, der die Schule des Karl Kraus durchlaufen hat, ohne von ihm abzufallen, aber auch ohne sein bedingungsloser Anhänger zu werden, neige ich der Sprachmagie zu: Man gebraucht Sprache nicht, man lässt sich von ihr leiten. „Ich beherrsche nur die Sprache der anderen. Die meinige macht mit mir, was sie will.“ (Kraus)

Ich sehe es weniger erotisch, will aber nicht leugnen, dass ich so etwas wie Sprachmagie anerkenne. Diese Magie sieht Sprache als ein Wesen, das sich entwickelt und wächst und stirbt. Ein Wesen, das in einem und aus einem spricht. Tote Wörter leuchten fahl aus alten Gedichten, in neuen glänzen frische auf. Mit dem bedrohten Genitiv leide ich wie mit sterbenden Bäumen, das aussterbende Reflexivpronomen geht mir ans Herz wie ein gestrandeter Wal, und brachial in Wörter gepresste Sternchen, brutale Unterstriche oder wortmittige, großspurige Großbuchstaben erscheinen mir wie Misshandlungen an Schlachtvieh, das gnadenlos aus der Massentierhaltung in die Fleischfabrik getrieben wird.

Das Schlachtvieh behandeln wir so im Namen des Marktes und des Rechtes aller auf proteinreiche Ernährung. Mit der Sprache gehen wir im Zeichen von Gender so grob um. Ich bin sporadischer Fleischfresser, und ja, ich denke, ich verstehe die Idee von Gerechtigkeit, Gendergerechtigkeit, aber ich denke auch, es sind Versuche, Gerechtigkeit abgekürzt, brutal und gefühllos zu exekutieren. Sie zeigen vor allem und zuerst die so Sprechenden als gerecht. Gendersternchen sind sprachliche Sheriffsterne emanzipativer Selbstgerechtigkeit.

Die Mühe der Sprache, die Schwierigkeit, einen gute, treffende, schöne Formulierung zu finden, ja, zärtlich und rücksichtsvoll und menschlich mit dem umzugehen, das wir sprechen und schreiben, das uns hilft, uns zu äußern und einander zu verstehen, werden damit ad acta gelegt. Hässlich, na und? Hauptsache, wir sagen, was wir zu sagen haben. Quälfleisch, na und? Hauptsache, wir werden satt.

Gibt es schönere Posten als verlorene? Ich höre schon auf, solches Zeug hinzuschreiben, das mir durch den Kopf geht, wenn ich darüber nachdenke, wie rundum alle den Kopf verlieren. Meinen habe ich schon lang verloren. Auch ist mir klar, wenn ich so einen Satz hinschreibe, kann er aus dem Zusammenhang gerissen werden, wird er aus dem Zusammenhang gerissen werden, irgendein korrupter Medientrottel wird in irgendein von der Regierung hochbezahltes Drecksblatt hineinschmieren: Thurnher gibt zu, den Kopf verloren zu haben. Nein, er würde schrieben „Thurnher gibt selbst zu“. Solche Möglichkeiten halten mich nicht vom Schreiben ab.

Schreiben stellt immer die Frage, ob man sich duckt oder sich aus der Deckung wagt; daran ist nichts neu, unter digitalen Umständen sieht man es nur schärfer.

Es war offenbar eine Historikerin, die ein im Falter erschienenes Inserat für Führungen durch Hitlers Wien (übrigens der Titel eines Bestsellers der Historikerin Brigitte Hamann) sprachlich nicht verstand. Die nicht verstand, dass eine Person nicht „triumphal“ sein kann, dass „triumphal“ sich auf die Rückkehr Hitlers bezog und das Inserat somit eine nicht nur harmlose, sondern notwendige historische Aufklärung in Form geführter Rundgänge ankündigte. Ihre Empörung auf Twitter rief dort wieder mehr Empörung hervor, was zwei Schmierblätter zu benützen versuchten, um den Falter zu diskreditieren.

Facebook-Chef MarkZuckerberg

Foto © Anthony Quintano

Im Radio sagt gerade ein Facebook-Sprecher, seine Plattform habe an Hassrede kein Interesse, denn sie profitiere nicht davon und entferne sie, wo ihrer gewahr werde. Als würde nicht der Facebook-Algorithmus diese Rede begünstigen, weil sie Nutzer anlockt und die Reichweite erhöht. Sie lügen, weil sie jetzt Werbung verlieren. Werbung, zugespitzt gesagt, das Geschäft, Menschen über Produkte zu belügen, zieht gegen den digitalen Lügenkonzern zu Feld. Es geht immer noch ein bisschen besser.

Die Lüge ist zu unserer gesellschaftlichen Grundlage geworden. Zum Lügen braucht es Sprache. Gegen Lügen kann man sich nur mit Sprache wehren. Jetzt fällt es mir ein. Ich wollte über die hier geplante „Liste verbotener Wörter“ schreiben. Kommt demnächst.

Ich sollte in der Früh nicht Bäumen beim Sterben zusehen.

Weiterhin: keep distance, wash hands, stay human!

Ihr Armin Thurnher

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