Blindenschrift
Peter Iwaniewicz findet, dass nicht nur Justitia blind ist
Droht ein neuer Kollaps? Sicher. Bloß welcher, denn deren gibt es viele. Mal verliert man das Bewusstsein, dann wieder stürzt die Wirtschaft ab oder Wissenschaftler untersuchen die Gründe für den Zusammenbruch historischer Gesellschaften. Letzteres tat der Evolutionsbiologe Jared Diamond in seinem gleichnamigen Buch und erntete damit auch herbe Kritik. Offenbar nimmt man es auch Forschern übel, wenn sie darüber sprechen, dass Menschen falsche Entscheidungen treffen können, die dann – nicht durch Krieg – zum Verschwinden ganzer Völker führen. Die Erklärungen, warum wir an globalen Krisen wie dem Klimawandel oder dem Insektensterben nicht schuld sind, klingen wie Ausreden einer Fußballmannschaft nach einem verlorenen Spiel: ungünstige Verhältnisse, unfaire Gegner, und wie immer kennen sich die Kritiker nicht aus.
Jetzt erschien in der Fachzeitschrift Biological Conservation eine Studie, in der die Autoren aus ihren Daten schlussfolgern, dass „Insekten auf dem Weg der Auslöschung“ sind. „Unsinn“, sagt Martin Lödl, Entomologe am Naturhistorischen Museum, „selbstverständlich wird es auch in 100 Jahren noch Insekten geben.“ Ja eh, denn niemand will gerne wie Kassandra sein, jene tragische Heldin, die immer das Unheil richtig voraussah, der aber niemand glauben wollte.
Ja, es wird Insekten geben, aber vor allem jene Arten, die wir in industriellen Anlagen für die Proteingewinnung züchten. Und wäre es nicht ernst, so könnte man die Wortmeldung des Kriminalbiologen Mark Beneke als bizarren Fun-Fact betrachten: „Seit 2003 merken Pathologen, dass weniger Fliegen an den Leichen zu finden sind.“ Ach was, alles nur Panikmache, Leichen werden auch so verwesen!, sollte man an dieser Stelle als Kollapsverweigerer ausrufen.
Man kann sich von wirbellosen Tieren stets bedroht fühlen oder sich auch an ihnen erfreuen. Eine Leserin schrieb mir: „An der Armatur meines Waschbeckens in der Küche hing seit längerem eine Zitterspinne. Ich war darüber sehr glücklich und dachte, wir werden noch viele Monate, wenn nicht gar Jahre zusammenleben. Gestern um Mitternacht habe ich sie zum letzten Mal begeistert betrachtet, aber heute früh war sie verschwunden.“
Schönheit liegt bekanntlich im Auge des Betrachters. Aber welches Organ ist dann dafür verantwortlich, dass wir unsere Augen vor den Konsequenzen unserer Handlungen verschließen?