Tagwache
Peter Iwaniewicz weiß, dass erst die zweite Maus den Käse bekommt
Ich glaube nicht, dass es eine gute Entwicklung ist, wenn immer weniger Menschen in der Früh aufstehen, um zu arbeiten“, ermahnte uns jüngst der Bundeskanzler. Der frühe Vogel fängt den Wurm, tadeln bedeutungsgleich Vogeleltern ihre faule Brut. Da bedarf es natürlich ein paar klärender Anmerkungen, ob ein Aufstehen vor Tagesanbruch auch biologisch wertvoll ist. Als Begründung für dieses von protestantischer Ethik geprägte Sprichwort wird gerne kolportiert, dass Regenwürmer in den taufeuchten und sonnenlichtlosen Morgenstunden unterwegs seien, weshalb die Futtersuche der Vögel erfolgreicher sei. Stimmt nicht, Regenwürmer wuseln auch dann nicht ungeschützt am Boden-Serviertablett herum. Man könnte sogar wie der Kabarettist Michael Niavarani in seinem 2011 erschienenen Buch argumentieren: „Mein erster Gedanke war: ‚Der frühe Wurm hat einen Vogel!‘ Wenn er nämlich etwas später aufgestanden wäre, der Wurm, hätte ihn der Vogel nicht fressen können. Instinktiv identifizierte ich mich mit dem Wurm und nicht mit dem Vogel“. Möglicherweise ist aber der Herr Bundeskanzler mit einem Leben aus der Wurmperspektive nicht vertraut.
Sprichwörter stimmen nicht immer. Forscher der schottischen University of Stirling beobachteten, dass Kohlmeisen vor den Hummelnestern in der Erde auf ausfliegende Tiere lauerten. Die verschlafenen, morgenmüden Hummeln sind nämlich mit nur geringem Aufwand zu fangen. Daher lernt man bereits in der Insekten-Volksschule: Morgenstund’ hat Gold im Mund, doch langer Schlaf ist auch gesund.
Ich hingegen bleibe morgens sehr lange im Bett liegen. Dies selbstverständlich nur aus beruflichen Gründen, weil ich die Gesangszeiten der verschiedenen Vogelarten vor meinem Schlafzimmer erhebe. Vogelmänner singen, um Reviere abzustecken und Frauen zu beeindrucken. Je nach Vogelart beginnt die morgendliche Gesangsarbeit zu einem anderen Zeitpunkt, der vom Sonnenaufgang abhängt: Gartenrotschwänze singen bereits eineinhalb Stunden vor Tagwache, Grünfinken erst 30 Minuten, nachdem das Licht aufgedreht wurde.
Und: Städtische Rotkehlchen, Amseln und Drosseln sind taffer, sexuell aktiver und aggressiver unterwegs, als ihre Cousins vom Land. Lärm und Kunstlicht weckt die Tiere früher auf – und wer schon in der Nacht um Partnerinnen zu singen beginnt, wird besser gehört.
Donnerstagsdemo also ab jetzt schon um 6 Uhr früh!