Neue Akten im Fall des 11-jährigen afghanischen Asylwerbers, der sich das Leben nahm

Gerichtsakten, die dem FALTER zugänglich gemacht wurden, zeigen, dass die niederösterreichischen Behörden über die desolate Situation in der Familie des Buben bestens unterrichtet waren

Presseaussendung vom 21.11.2017

Der FALTER veröffentlicht in seiner morgen Mittwoch erscheinenden Ausgabe Gerichtsakten, die die Familie des 11-jährigen afghanischen Asylwerbers betreffen, der am Sonntag, 12. November in einer Flüchtlingseinrichtung in Baden Suizid begangen hat.

Mit dieser Veröffentlichung nimmt der Fall eine neue Wendung, denn die Behörden hatten zunächst noch behauptet, dass es bei der Familie „keine Auffälligkeiten“ gegeben hätte. Tatsächlich aber ist mit den Akten, die dem FALTER vorliegen, erstmals belegt, in welch kritischem Zustand die Familie und wie sehr der Obsorgeberechtigte überfordert war. Die Dokumente belegen außerdem, dass die zuständigen Behörden, sowohl die Bezirkshauptmannschaft als auch das Bezirksgericht in Baden, über die desolate Familiensituation genauestens unterrichtet waren.

In diesem Fall handelt es sich nicht um eine klassische Familie, sondern um eine Gruppe von sieben Geschwistern aus Afghanistan, die in Österreich um Asyl angesucht hatten. Sowohl Vater als auch Mutter der Kinder sind tot. Der älteste Bruder, 23 Jahre alt, ist Obsorgeberechtigter für die sechs anderen minderjährigen Geschwister, drei Mädchen und drei Buben, einer von ihnen mit Downsyndrom. Gerade dieser Bub legte die Nöte der Geschwister besonders offen, wie aus den Dokumenten aus denen der FALTER zitiert hervorgeht: Die Diakonie schreibt in ihrem Brief an das Bezirksgericht davon, dass der Junge mehrmals von der Polizei nachhause gebracht worden wäre, „wiederholt vor Autos gelaufen“ sei und im Haus oft „nackt oder nur teilweise bekleidet“ herumliefe und manchmal zum Hofer laufe und um Essen bettle.

Die Diakonie hatte ihrem Schreiben ans Bezirksgericht Baden auch einen Antrag an Übertragung der Obsorge beigefügt, zumindest für den Jungen mit Downsyndrom. Denn der 23-jährige Obsorgeberechtigte sei mit der Betreuung seiner Geschwister völlig überfordert gewesen: Er sei nicht zu Elternabenden erschienen, hätte den Kinder keine Schulsachen gekauft, besuchte mit ihnen nicht einmal den Arzt.

Die BH Baden sah indes keine Notwendigkeit für eine Obsorgeübertragung, wie sie in ihrer Stellungnahme gegenüber dem Bezirksgericht Baden erklärt; es bestünde keine Gefährdungslage für den Jungen mit Downsyndrom, die eine Obsorgeübertragung rechtfertigen würde, heißt es darin. „Schon gar nicht ist eine Gefährdungssituation erkennbar, die alle sechs Kinder betreffen würde, sodass auch die Herausnahme aller Geschwister einer rechtlichen Grundlage derzeit völlig entbehrt.“

In ihrer Stellungnahme, die sie noch am 11. August zur Lage der Familie ans Bezirksgericht Baden gesandt hatte und aus der der FALTER zitiert, hieß es: Die „Überbrückung der Ferienzeit“ stelle für die Familie eine „Herausforderung“ dar. Aber: „Wir gehen davon aus, dass sich die Situation stabilisieren wird, sobald Schule und Hort wieder starten und die Kinder einen geregelten Tagesablauf haben.“

Die BH Baden verteidigt heute ihr Vorgehen. Der Suizid des 11-Jährigen sei „tragisch“, ein Zusammenhang mit der Frage der Obsorge dennoch auszuschließen, sagt Susanne Stokreiter-Strau, Leiterin der Sozialabteilung der BH Baden gegenüber dem FALTER. Und das Bezirksgericht Baden, das die Letztverantwortung über diesen Fall hat und dem 23-Jährigen auch die Obsorge über die sechs Geschwister übertragen hatte, verweist auf die Recherchearbeiten der BH Baden.

Diese Artikel könnten Sie auch interessieren:

Alle Artikel der aktuellen Ausgabe finden Sie in unserem Archiv.

12 Wochen FALTER um 2,50 € pro Ausgabe
Kritischer und unabhängiger Journalismus kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit einem Abonnement!