Die Schande von Stein
In Österreichs größter Justizanstalt nehmen Beamte Verwesungsgerüche wahr. Dann öffnen sie die Tür. Der Justizminister spricht von einer "Katastrophe"
Foto: Heribert Corn
Am Morgen des 10. März nehmen die Beamten der Justizanstalt Stein im Hochsicherheitstrakt West 1 eine „Geruchsbelästigung“ wahr. Sie rufen einen Vorgesetzten am Diensttelefon an, Amtsinspektor Walter Schöberl. Er möge dringend kommen, es gebe Probleme mit einem „geistig abnormen“ Insassen, der nicht zum Arzt wolle.
Amtsinspektor Schöberl lässt den Haftraum des Insassen mit der Nummer 87500 öffnen. Ein alter Mann mit dick eingebundenen Beinen blickt ihn an: Wilhelm S., 74 Jahre, gelernter Kellner, „geistig abnorm“, seit 1995 inhaftiert.
Schöberl schreibt einen Tag später in sein Protokoll, ihm sei beim Öffnen der Zellentüre „starker Verwesungsgeruch“ entgegengeschlagen.
Die Beine des Häftlings S., so zeigen Fotos, waren die Ursache. Monatelang merkte niemand, wie die Füße des Häftlings verkrusteten, wie die Haut durch Geschwüre aufbrach und wie sich Zehennägel zentimeterlang aufbogen. Kein Justizwachebeamter, kein Arzt, keine Krankenschwester schlug Alarm. So lange, bis der Geruch auf West 1 nicht mehr zu ertragen war.