Agenda 2032: Rebellische Bibliotheken als fünfte Gewalt

Katharina Prager
am 04.02.2022

Selbst etwas staubig, selbstverständlich bebrillt, meist streng, oft skurril und in den komplizierten Ordnungswelten der von ihnen behüteten Schriften weitaus kundiger als in der „messiness“ menschlicher Beziehungen und des wirklichen Lebens. Diese Klischees um Bibliothekar*innen sind in Büchern, Filmen, Computerspielen, Memes etc. gut abgelegt und abgelegen. Womöglich liegt es ja an solchen Klischees, wenn man – auf der Suche nach Utopien in einer sich radikal digital transformierenden Welt – nicht sofort an Bibliotheken denkt. Und doch kann man gerade jetzt von Bibliotheken – die seit Jahrtausenden eine zentrale Rolle bei Sicherung und öffentlichen Bereitstellung von Wissen spielen – utopisches Denken und Handeln lernen.

Zuerst sah es freilich eher nach einer Dystopie aus: Inmitten der Digitalisierung, die sie seit über fünfzig Jahren betrieben und begleiteten, schien es vorerst so, als ob sich bibliothekarische Aufgaben durch das Online-Stellen digitalisierter Ressourcen, durch die Automatisierung von Abläufen und durch lernende Systeme erledigt hätten. Wollte man nicht zum „digitalen Hilfsarbeiter“ (Wolfgang Marderthaner) herabgestuft werden, musste man sich also neu erfinden und sich auf jene Expertise dieses Feldes konzentrieren, die die technischen Entwicklungen humanistisch überschritt – der Mensch sollte neu im Mittelpunkt stehen.

Ein Vordenker dieser Entwicklungen ist R. David Lankes, der sich bereits seit über zehn Jahren für eine Schlüsselstellung von Bibliotheken in der heutigen Gesellschaft einsetzt und mit folgendem Credo viel zitiert wurde: „Bad libraries only build collections. Good libraries build services […]. Great libraries build communities.“ Lanke war auch Initiator einer kürzlich veranstalteten Reihe von Online-Symposien, die „New Librarianship“ in eine postpandemische und postdigitale Welt weiterdachte. Es ging dabei um nichts weniger als um die Würde des Menschen in seiner Vielfalt, um Inklusion und Partizipation – dem bekannten historischen Bias von Gedächtnisinstitutionen und dem Mythos von Neutralität beikommend –, um den Einsatz für Demokratie und das Streben nach einer gerechteren Gesellschaft sowie um internationale Vernetzung als Kernwerte des Bibliothekswesens.

Derartige Ideen um Bibliotheken als „change agents“ und „democratic spaces“ finden sich nicht nur in den USA, sondern auch in Europa. In den skandinavischen Ländern werden Bibliotheken sogar als „fünfte Gewalt“ gedacht und sollen als regulierende Instanz zur Schaffung gesicherten Wissens in der Gesellschaft beitragen. In Deutschland meinen Bibliotheksexperten wie Klaus Ceynowa oder Hans-Christoph Hobohm, dass es Privileg und Pflicht großer Gedächtnisinstitutionen sei, den inzwischen nicht mehr ganz so neuen digitalen Wissensraum mit zu gestalten. Aufgrund jahrhundertealter Kompetenzen („informational skills“) könne man eine in die Zukunft weisende Rolle als Garant für die demokratische Basis in der Gesellschaft einnehmen.

Nicht zuletzt laufen in Wien viele Fäden zusammen – im Zusammenhang mit der Digitalisierung des nationalsozialistischen Erbes rief 2019 Markus Stumpf zum Nachdenken über die veränderten Rolle von (wissenschaftlichen) Bibliotheken auf: Es könne nicht nur um eine unkontextualisierte „Zurverfügungstellung“ von digitalisiertem Material gehen, sondern um eine Auseinandersetzung mit problematischen (rassistischen, sexistischen, faschistischen etc.) Inhalten, um die Übernahme von Verantwortung und die Einhaltung ethischer Grundsätze sowie um Vermittlungs- und Bildungsarbeit in diesem Zusammenhang.

Im selben Jahr  wurde das „Wiener Manifest für digitalen Humanismus“ aufgesetzt, vor dessen Hintergrund Anita Eichinger als Direktorin der Wienbibliothek im Rathaus eine demokratische und partizipative Sicherung und Erschließung des kulturellen Erbes neu denkt und an ihrer Institution umsetzt. Hierzu bedarf es eines neuen bibliothekarischen Selbstbewusstseins und Selbst/Verständnisses, das in Zeiten von Fake News und digitaler Manipulation nicht nur weiterhin verlässlich und kommerziell unabhängig (Stichwort: Google Books) das kulturelle Erbe Wiens sichert und bereitstellt, sondern auch in stetigem Austausch mit Forschung und Gesellschaft dieses Erbe transparent reflektiert, diskutiert und zur Mitgestaltung einlädt. Um gemeinsamen Wissensgenerierung demokratisch und partizipativ zu gestalten und Wissenschafts- und Demokratiefeindlichkeit entsprechend entgegen zu treten, muss die Wienbibliothek auch ein analoger Ort der Debatte bleiben.

Das alles mag kühn und groß gedacht sein, ist aber „wichtiger denn je“ ist – wie auch der MIT-Open Learning-Experte Peter B. Kaufman in seinem packenden Buch The New Enlightenment. The Fight to Free Knowledge in a World Online bestätigt. Kaufman skizziert die Traditionslinien der Aufklärung von der Universalbibliothek von Alexandria über die erste Bibelübersetzung in Englische und das erste riesenhafte, Projekt um referenzierbares Wissen in der Encyclopédie bis hin zu Wikipedia. Inmitten von „surveillance capitalism“ (Shoshana Zuboff) und „truth decay“, also systematischen Attacken gegen Fakten, Wissen und Wahrheit, fordert er das empowerment von Wissensinstitutionen wie Bibliotheken und ruft zu einer „Rebell Alliance“ derselben gegen das von ihm so genannte „Monsterverse“ auf, um ein neues aufklärerisches Netzwerk des Wissens zu schaffen.

Nun, mit rebellischen Bibliotheken als Verbündete kann man jedenfalls schon mal rechnen.

Zum Weiterlesen:

Perspectives on Digital Humanism, hg. von Hannes Werthner, Erich Prem, Edward A. Lee und Carlo Ghezzi. Springer 2021.

Peter B. Kaufmann: The New Enlightenment. The Fight to Free Knowledge in a World Online. Penguin Random House 2021.

Libraries, Archives and Museums as Democratic Spaces in a Digital Age, hg. von Ragnar Audunson, Herbjørn Andresen, Cicilie Fagerlid, Erik Henningsen, Hans-Christoph Hobohm, Henrik Jochumsen, Håkon Larsen und Tonje Vold, Berlin / Boston: De Gruyter 2021.

Nationalsozialismus digital. Die Verantwortung von Bibliotheken, Archiven und Museen sowie Forschungseinrichtungen und Medien im Umgang mit der NS-Zeit im Netz, hg. von Markus Stumpf, Hans Petschar, Oliver Rathkolb, V&R unipress 2021.

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