2032: Globale Ungleichheit am Kipppunkt

Judith Kohlenberger
am 18.01.2022

Im Jahr 2032 werden die Auswirkungen der weltweiten Coronapandemie eine Entwicklung beschleunigt haben, die im Bereich der globalen Migration schon lange davor ihren Lauf genommen hatte: Grenzüberschreitende Mobilität wird zunehmend zu einem Privileg für all jene geworden sein, die entsprechende Ressourcen und Infrastruktur haben, und damit zu einem Phänomen, dass gleichzeitig globale Ungleichheiten abbildet und noch weiter verstärkt.

Bereits jetzt, im Jahr 2022, sehen wir uns einer Welt gegenüber, in der die globale Elite visafrei in fast alle Länder der Welt reisen kann. Während eine amerikanische Staatsbürgerin ganze 187 Staaten betreten kann, bevor sie ein Visum vorweisen muss, sind es im Falle einer sudanesischen oder libanesischen Bürgerin nur 41 Länder, alle davon im Globalen Süden. Der Geburtsort bzw. die Geburtsfamilie und die Staatsbürgerschaft entscheiden weiterhin grundlegend über die (Mobilitäts)chancen, die man im Leben erhält – oder eben nicht. Im Kern wird damit eine Hierarchie der kolonialen Ordnung aufrecht erhalten, wie es die US-amerikanische Politlogin Kelsey P. Norman bezeichnet. Durch ihre Migrations- und Visaregime, aber auch durch die Schaffung legaler Fluchtwege (oder eben nicht) entscheiden Industrienationen maßgeblich über die Art der Mobilität, die für weniger Privilegierte überhaupt hypothetisch zugänglich ist, von den finanziellen und persönlichen Aufwendungen, die dafür notwendig wären, ganz zu schweigen.

Denn ob eine Sudanesin die Chance erhält, ihre Lebensumstände durch eigene Kraft und Anstrengung in einem Land, das dafür entsprechende Bedingungen wie Frieden und soziale Absicherung bieten würde, verbessern zu können, hängt nicht nur von den ihr zuerkannten Rechten innerhalb ihres eigenen Landes ab, sondern auch vom Recht der Einreise und des Bleibens (und in weiterer Folge des Arbeits- und Bildungszugangs) in anderen Ländern. Verwehren ihr Industriestaaten dieses Recht, so bedeutet dies aber auch, dass sie sich eben nicht in vollkommener Gleichheit einer US-Amerikanerin in ihrem pursuit of happiness, wie es die amerikanische Verfassung als Recht aller Menschen (oder zumindest all men) tituliert, gegenübersieht. Der Zugang zu vielen anderen Rechten, wie etwa das Recht auf Bildung oder Familie, hängt aber ganz entschieden von grundlegender Mobilität ab, wie uns zuletzt die Pandemie schmerzlich vor Augen führte.

Mobilität ist also im Kern eine Verteilungsfrage, und das wird auch im Jahr 2032 kaum wo besser abgebildet sein als im „Global Passport Power Rank“ des Beratungsunternehmens Henley & Partners, das regelmäßig die besten Reisepässe, und damit die besten Staatsbürgerschaften, weltweit auflistet. Weiterhin werden westliche Industrienationen wie die USA, Kanada, Deutschland oder Finnland an der Spitze stehen. Nicht nur, dass sie die materiellen Ressourcen und den Zugang zu entsprechenden Transportmöglichkeiten (und, post-COVID, Impfzertifikaten) haben, um transkontinental weite Distanzen zurückzulegen, sie haben auch entsprechende Rechte der Einreise, die ihnen qua Abstammung zuerkannt sind. Damit können sie, ironischerweise, ihre Vormachtstellung noch weiterausbauen, besteht doch eine wechselseitige Beziehung zwischen Mobilität und sozialem Status, sowohl auf der gesellschaftlichen als auch individuellen Ebene: Die Forschung zeigt, dass ein höhere sozioökonomischer Stand die Mobilität erhöht, was wiederum positiv auf diesen einwirkt.

Leider ist auch das Gegenteil der Fall: Weniger Ressourcen bedeuten weniger Zugang zu Mobilität, und dadurch weniger Möglichkeiten, den eigenen Status zu verbessern. Der Soziologe Steffen Mau spricht in diesem Zusammenhang von einer „Schließungsglobalisierung“, die sich 2032 noch weiter zugespitzt haben wird. Die wichtigsten Herkunftsländer Geflüchteter, wie Syrien, Irak und Afghanistan, werden weiterhin am unteren Ende der Reisepass-Skala angesiedelt sind. Für fast alle Länder der Welt benötigen sie ein Visum, welches sie selten erhalten. Sie haben wenig, und entsprechend wenig wird ihnen (an Mobilität und damit an Chancen) gegeben. Der Begriff des „Ranking“ ist insofern passend, weil er genau das offenlegt, was dadurch entsteht: Eine Form der weltweiten Rangfolge, die den gesamten Globus einordnet und klassifiziert. „Some inhabit the globe; others are chained to place,“ wie es der polnisch-britische Soziologe Zygmunt Baumann auf den Punkt bringt.

2032 wird aber genau dieses System an der Kippe stehen. Europa und die USA werden ihre Asylverantwortlichkeit nicht mehr länger auslagern können, schon allein, weil mehr afrikanische und südasiatische Länder vom niedrigen ins mittlere Einkommensniveau rücken und damit auch mehr Ressourcen für Emigration haben. Gleichzeitig werden globale Verwerfungen als Folgen der Coronavirus-Pandemie, die in vielen Regionen Lebensmittelknappheit und wirtschaftliche Notlagen noch verschärft haben wird, zunehmen. Die Sicherheitslage in Ländern des Mittleren Ostens und Globalen Südens wird weiterhin prekär sein, Fluchtursachen wie Bürgerkriege und diktatorische Regime werden weiterhin bestehen – hat doch der Globale Norden seit 2015 legale Fluchtrouten unterbunden, statt sie auszubauen, wodurch aber nicht die von US-Präsident Joe Biden viel zitierten root causes (also die Wurzeln) globaler Fluchtbewegungen angegangen wurden. Im Gegenteil: Antworten auf die sogenannte „Flüchtlingsfrage“ wurden bequem verlagert – zeitlich nach hinten, in die (nun nicht mehr so ferne) Zukunft und örtlich in Drittstaaten mit zweifelhafter Sicherheits- und Menschenrechtslage.

Diese „Strategie“, so man sie denn überhaupt als solche bezeichnen mag, wird 2032 ihren Preis einfordern. Globale Ungleichheiten durch koloniales Erbe, die sich verschärfende Klimakrise, die Länder südlich der Sahara und Inselstaaten im Pazifik als erstes und am härtesten zu spüren bekommen, und illegitime Machthaber, die europäische und amerikanische Regierungen weiterhin mit Waffen versorgen oder mit Flüchtlingsdeals gegen diplomatische Handhabe immunisieren, werden dazu führen, dass die Zahl der Menschen auf der Flucht in den 2030ern auf über 100 Millionen gestiegen sein wird. Das ist keine gewagte Prognose, sondern einer sehr konservative Schätzung, liegt die Zahl jener Menschen, die gewaltsam aus ihrer Heimat vertreiben wurden, bereits jetzt bei über 80 Millionen.

Die 2030er könnten somit eine Dekade der Entscheidung sein: Zu groß wird der (von Europa und den USA selbst verursachte) Druck aus Herkunfts- und Transitländern sein, als dass man Asyl- und Migrationspolitik weiter externalisieren kann. Zu groß das Elend der „Lagerhaltung“ von geflüchteten Menschen, zu sichtbar die Menschenrechtsverletzungen an den Außengrenzen, die zunehmend nicht nur vermeintliche Werte, sondern auch Rechtsstaatlichkeit und wirtschaftliche Vormacht der EU in Frage stellen werden. Gleichzeitig wird eine rapide gealterte und schrumpfende Gesellschaft, noch befeuert von pandemischer Übersterblichkeit und Langzeitfolgen, vor ökonomischen und sozialen Herausforderungen stehen. Das könnte der Zeitpunkt sein, in dem sich Entscheidungsträger*innen von einem defizitär- auf einen ressourcenbetonten Migrationsdiskurs verständigen (müssen): Temporäre Einreise für Migrant*innen aus dem Globalen Süden zulassen (Stichwort zirkuläre Migration), legale Fluchtrouten ausbauen, den Spurwechsel zwischen Arbeitsmigrations- und humanitärer Schiene ermöglichen.

Was im Jahr 2022 utopisch klingen mag, kann 2032 schon nüchterne Notwendigkeit geworden sein.

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