Agenda 2032: Ohne Solidarität keine Zukunft

Felix Pinkert
am 09.01.2022

Wie könnte die Welt besser sein? Eine klassische Antwort darauf ist das klassische Schlaraffenland, das Land von Milch und Honig, stellvertretend für üppigen, gesunden, naturverbundenem Überfluss, Müßiggang, Lust, und, im Wiener Winter besonders attraktiv: maienhaften Sonnenschein mit schwirrenden Honigbienen auf einer grünen Au.

Der Haken an so einer Utopie ist, dass ich im Winter nichts daran machen kann, dass es in Wien kalt und oft grau ist. Ich kann zwar auf den Mai warten, aber dafür brauche ich keine Utopie. Das gilt für alle Utopien, die eine durchweg gute, aber der realen Welt völlig entrückte Alternativwelt vorzeichnen. Meine Lieblingsstadt (Verzeihung Wien!) ist zum Beispiel Isaac Asimovs Radole City, eine Stadt auf einem fernen Planeten, direkt an einer unbeweglichen Tag-Nacht Grenze liegend, beschrieben als ein „continuous garden, swimming in the eternal morning of an eternal June“. Leider habe ich auf Willhaben noch kein dieser Vorliebe entsprechendes „Sonnendurchflutetes Altbaujuwel“ gefunden, und als Beitrag zur Wiener Stadtplanung taugt dieses Ideal auch nichts.

Literarisch sind das Schlaraffenland oder Radole City nicht Utopie, sondern einfach Fantasy und Science Fiction. Das hat freilich seinen Platz, zum Beispiel als literarisches Geschenk unterm Christbaum, aber nicht in einer Utopie für 2032. In einer interessante Utopie geht es nicht um irgendeine ferne, bessere Welt, sondern darum, wie unsere Welt besser sein oder werden könnte. Daher hält solch eine Utopie viele Aspekte unserer Welt, Gutes wie Schlechtes, konstant, und erlaubt sich nur einen begrenzten, realistischen, Optimismus.

Wenn wir hier also eine Utopie für 2032 konstruieren, was halten wir konstant? Am 1. Jänner 2032 werden wir immer noch in einer Welt aufwachen, in der das Klima als Ganzes bereits aus den Fugen geraten ist. Wir werden zwar hoffentlich nicht in die 85. Covid-Welle („Omega-Epsilon“ etwa) und dazu gehörigen Lockdown hinein aufwachen, aber wohl doch in eine Welt, in der es die Gefahr neuer, möglicherweise noch verheerenderer, Pandemien gibt. Und höchstwahrscheinlich wird uns auch am 1. Jänner 2032 der demographische Wandel weiter vor enorme Herausforderungen stellen. Und so weiter. Es gibt also in jeder realistischen Utopie mehr als genug Probleme, um sie nicht zum faden Schlaraffenland verkommen zu lassen.

Es gibt aber glücklicher Weise auch vieles, das wir für uns 2032 realistisch-optimistisch besser wünschen können. Zum Beispiel, dass unbegrenzte umweltfreundliche Fusionsenergie bald zur Verfügung stehen wird und viele unserer Umweltprobleme löst. Da ich aber nicht Physiker, sondern Philosoph bin, möchte ich meine Utopie 2032 in politischen und wirtschaftlichen Begriffen zeichnen.

Ein utopisches 2032 ist für mich sicher keines, in dem wir menschengemachten Klimawandel, Pandemien, gesellschaftlichen Wandel, und andere Probleme leugnen, ignorieren, oder kurzsichtig überpflastern. Am 1. Jänner 2032 wache ich in meiner Utopie statt dessen in dem Wissen auf, dass wir als Gesellschaft – in Österreich, Europa, und der Welt im Jahr 2032 weiterhin, wie schon in den utopischen Jahren davor, die nötigen Schritte zum Bewältigen dieser Probleme gehen werden, und dass dies Teil eines robusten langfristigen Plans ist (ich komme zwar aus der ehemaligen DDR, aber, nein, mit einem “einfachen” Fünfjahresplan ist es nicht getan, und es braucht auch keine detaillierten Produktionsvorgaben!). Ich wache auf in dem Wissen, dass wir kollektiv auf robuste, rationale, und langfristige Weise die Probleme anpacken, statt von einer Krise in die nächste zu schlafwandeln.

Aber damit ist es nicht getan – eine solche Utopie ist zwar vielleicht Good News für die Welt im Abstrakten, aber nicht unbedingt für mein persönliches Jahr 2032. Steht vielleicht eine Agenda 2032 an, durch die ich durch verpflichtenden Energiesanierungen aus meiner Wohnung herausgepreist werde? In der ich zum Zweck der Pandemiebekämpfung meine Arbeit von zu Hause machen muss, zugleich meine Kinder homeschoolen “darf”? Oder die mir Pensionszahlungen, oder persönliche Pflegeleistungen abverlangt, die ich kaum stemmen kann?

Einer solchen Agenda 2032 fehlt die Attraktivität einer Utopie – denn wenn ich schon eine Utopie schreibe, dann bitte auch eine, in der es auch mir gut geht! Und als Utopie wäre eine solche Agenda 2032 auch nicht realistisch. Eine echte Lösung der Probleme, denen wir uns als Menschheit gegenüberstehen wird es nicht geben, wenn diese Lösung bedeutet, dass viele einzelne Menschen Schwierigkeiten haben, ihr tägliches Leben zu meistern. Eine Langfristigkeits-Diktatur auf Kosten des gelebten Alltags kann es vor allem in demokratischen Gesellschaften nicht geben. Also wird am utopischen 1. Jänner 2032 sowohl klar sein, dass im neuen Jahr wieder wichtige Veränderungen und Problemlösungen anstehen, als auch, dass diese sozial bestens durchdacht sind und damit auch die persönliche Situationen, Bedürfnisse, und Grenzen meiner Mitmenschen und meiner selbst respektieren.

Aber auch damit ist es noch nicht getan. Eine Problemlösungs-Agenda 2032 mag mir und meinen Mitmenschen zwar in sich keine neuen Probleme bereiten, aber das macht sie noch nicht mehrheitsfähig. Gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Paradigmenwechsel,  tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen, und die Forderung, dass ich meinen Beitrag dazu leisten möge – dafür hätte zumindest ich keinen Nerv, wenn ich mich zu Beispiel um meine Wohnung, die Bildung meiner Kinder, Verlust meiner Arbeit, oder Ausgrenzung und Verlust meiner gesellschaftlichen Teilhabe sorgen müsste. Damit wähne ich mich in zahlreicher Gesellschaft – ein persönliches Krisen-, Bedrohungs- und Überforderungsgefühl macht Menschen wohl nur in den seltensten Fällen gesellschaftlich progressiv. Gemeinsam große Probleme anpacken geht also nur, wenn wir alle in einer Position sind, unsere persönlichen Herausforderungen zu meistern, und dann Kräfte übrig haben für unseren Beitrag zum Lösen der großen Probleme unserer Zeit. Da unsere eigenen Ressourcen begrenzt sind, geht dies nur in einer solidarischen Gesellschaft, die allen Mitgliedern sichere gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht. Dies bedeutet, dass in meiner Utopie des Jahres 2032 Probleme wie überbordende Wohnkosten und andere Preissteigerungen, zunehmende wirtschaftliche und gesellschaftliche Ungleichheit, und Diskriminierung von Minderheiten bereits effektiv gelöst sind.

Zum 1. Jänner 2022 genoß ich heuer ganz kurzlebig mein kleines Schlaraffenland in Form eines aus meiner ostdeutschen Heimat zugeschickten Dresdner Christstollens, und lese dazu gemütlich Asimovs Science Fiction. Aber vom 1. Jänner 2032 wünsche ich mir doch mehr: Dass wir einander als Bürger*innen einer gleicheren, sozial inklusiven Gesellschaft auf Augenhöhe begegnen, und wir auf dieser Basis gemeinsam die Probleme des Jahres 2032 und darüber hinaus anpacken. Ein realistisches Utopia.

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