Das S-Wort

Judith Kohlenberger
am 15.11.2021

So sehr sich seit März 2020 pandemische Gewissheiten, Infektionszahlen und politische Antworten wellenförmig änderten, so konstant bleibt die Hochkonjunktur eines Begriffs, der von Beginn an bestimmend sein sollte und es dann leider nur selten war: Solidarität.

Selten wird dabei genauer hingeschaut, wie sich diese Solidarität formt, warum sie uns offenbar abhanden gekommen ist (so sie denn jemals existierte) und wie sie wieder eingefangen werden kann. Oder noch grundsätzlicher: Wer denn dieses „Wir“ ist, das in fast täglichen Pressekonferenzen von Gesundheitsminister und Bundeskanzler angesprochen, ja fast angefleht wird, nun endlich die Reihen zu schließen und sich untereinander solidarisch zu zeigen.

Nun, zunächst lässt sich die von „uns“ eingeforderte Solidarität anhand unterschiedlicher Parameter festmachen. Dazu zählt zum einen die Identifikation mit einer bestimmten Gruppe, zu der man sich zugehörig fühlt. Eng damit verbunden ist die Reichweite dieser Solidarität, also wer noch zu dieser Gruppe gezählt wird und wer davon ausgeschlossen ist. In Krisenzeiten gewinnt der dritte Parameter für Solidarität an Bedeutung, nämlich die konkreten Bedingungen, an die diese geknüpft ist – oder eben nicht: Wird eine bestimmte Leistung, ein genormtes Verhalten wie etwa Impfen oder Abstandhalten erwartet, damit Mitglieder der Gruppe Solidarität erfahren? Und beanspruchen jene, die sich solidarisch zeigen, eine Gegenleistung?

Tatsächlich kann Reziprozität als zentrales Merkmal der Abgrenzung von Solidarität von verwandten Konzepten wie Barmherzigkeit oder Mildtätigkeit verstanden werden. Solidarisches Handeln ist kein Handeln aus einer privilegierten Situation heraus, die sich im metaphorischen Verteilen von Almosen erschöpft. Im Gegenteil, es basiert auf der grundsätzlichen Annahme, dass jene, die sich solidarisch zeigen, auch selbst einmal in die Lage geraten können, auf die Solidarität anderer angewiesen zu sein. Auf die jetzige Situation umgelegt: Dass jene, die sich zur Abwendung eines drohenden Kollapses des Gesundheitssystems einschränken, auch selbst auf dieses Gesundheitssystem zählen und damit Einschränkungen Anderer einfordern dürfen.

Auf einer abstrakten Ebene stehen hinter den gängigen Konzepten von Solidarität, ob sie nun utilitaristisch oder universell definiert sein mögen, Vorstellungen von Gerechtigkeit, die mehr oder weniger moralisch aufgeladen sind. Das führt zuletzt auch zu dem Spannungsfeld zwischen der Solidarität des Einzelnen und der institutionell gesicherten Solidarität, wie sie beispielsweise in westeuropäischen Wohlfahrtsstaaten vorherrscht.

Der Sozialstaat gilt weiterhin als das Paradebeispiel für die institutionelle Form des solidarischen Handelns, das unabhängig von individuellen Dimensionen existiere. Damit verdeutlicht institutionelle Solidarität als „kooperative Interaktion“ auch, dass man nicht alle Mitglieder der Gruppe, zu der man sich zugehörig und mit der man sich verbunden fühlt, persönlich kennen muss.

Institutionelle Solidarität baut somit wesentlich auf dem Konzept der „imagined communities“, also der fiktiven oder vorgestellten Gemeinschaften des britisch-irischen Politologen Benedict Anderson auf. Die Nation ist das Paradebeispiel einer solchen sozial konstruierten Gemeinschaft, an die all jene, die sich dieser Nation zugehörig fühlen, glauben. Auch wenn sie sich ihr ganzes Leben lang nie persönlich treffen, austauschen oder etwas tatsächlich Gemeinsames schaffen werden.

Um das nationale „Wir“ als diese Art der „imaginierten Gemeinschaft“ zu begreifen, braucht es eine minimal-kollektive Erfahrung, einen kleinsten gemeinsamen Nenner, der alle eint. Auf der schwer messbaren, jedoch gewichtigen emotionalen Ebene sind das (vermeintlich) geteilte Werte, Ansichten, Interessen, Einstellungen, Mentalitäten, Eigenschaften und Erlebnisse, die einem die Vorstellung einer Gemeinschaft vermitteln. Dadurch wird die „community“, so Anderson, „unabhängig von realer Ungleichheit und Ausbeutung, als ‚kameradschaftlicher‘ Verbund von Gleichen verstanden“, die man aber in der Regel, mit Ausnahme der kleinsten Dorfgemeinschaft, nicht persönlich kennt.

Am Beginn der Coronavirus-Pandemie war dieser Aspekt deutlich spürbar: Im Interesse der Gemeinschaft und basierend auf einem wirkmächtigen Narrativ der Solidarität verzichteten Einzelne auf Arbeit, Einkommen, Freizeit und Familienleben.

Nun tritt aber zunehmend zutage, dass bei gewissen Werten und Ansichten (wie etwa Vertrauen in die Wissenschaft) ganz offenkundig keine Übereinstimmung in der „imagined community“, sondern im Gegenteil diametral entgegengesetzte Annahmen herrschen, und damit bröckelt auch das Gefühl der Solidarität. Warum sollen sich Menschen untereinander solidarisch zeigen, die ganz offenkundig gar nichts miteinander gemein haben, ja sich gegenseitig als Bedrohung (der eigenen Sicherheit, des Wohlstands, der Gesundheit bzw. des Gesundheitssystems) wahrnehmen? Warum sollen sie Appellen einer Bundesregierung Gehör schenken, die so offenkundig nichts tut, um Vertrauen zu wecken, Expertise wertzuschätzen und Verantwortung zu übernehmen, gegebenenfalls auch zum persönlichen Nachteil?

Losgelöst vom akuten Anlassfall einer globalen Pandemie (und eines suboptimalen nationalen Managements ebendieser) liegen die strukturellen Ursachen dafür, soziologisch gesprochen, auch in einer zunehmend getrübten Sicht auf die Grundvoraussetzung von Solidarität, egal in welcher Nuancierung und Ausformung. Solidarität beruht grundlegend darauf, dass wir miteinander assoziiert sind, aufeinander angewiesen sind, einander gegenseitig bedingen.

Nähe ist Grundvoraussetzung für Zugehörigkeit. Nicht erst seit dem Gebot zum Social Distancing lässt sich eine vermehrte Fragmentierung unserer Gesellschaft beobachten, durch welche die wahrgenommene wie auch tatsächliche Verbundenheit verloren geht. Soziale und ökonomische Ungleichheit sorgen für eine zunehmende Milieuisierung – ein Umstand, der feuilletonistisch häufig als „Echokammern“ bezeichnet wird. Diese Blasen lassen sich sowohl geographisch in Städten und Regionen als auch im digitalen Raum nachzeichnen, wo sie durch Algorithmen drastisch aufgebläht werden.

Ökonomische Analysen zeigen seit Jahrzehnten, dass global betrachtet Ungleichheit zwar gesunken ist, die Ungleichheit innerhalb von Staaten jedoch im Zunehmen begriffen ist. Auf diese unterschiedlichen (innerstaatlichen) Trennlinien setzt die jetzige Polarisierung durch Corona auf und schafft gleichzeitig neue.

Vielleicht hat Benedict Anderson in den 1990ern aber bereits einen Ausweg aus der Misere skizziert, den jüngere Theoretiker, wie der israelische Historiker Yuval Harari, aufgreifen: Es ist die Möglichkeit zur Abstraktion und zum Fiktiven, zum Erzählen jener Geschichten und Mythen, die uns als Gemeinschaft zusammenkitten und im weiteren Sinne zur Solidarität befähigt.

Kleine wie große Gemeinschaften brauchen einen wirkmächtigen Narrativ als den Kitt, der sie zusammenhält, unabhängig davon, ob sich ihre einzelnen Mitglieder kennen. Erst durch die Zusammenarbeit und den Zusammenhalt in der Gruppe, so Harari, konnte der frühe Homo sapiens überleben und sich über den gesamten Globus verbreiten. Wesentlich dabei war die Sprache, die Menschen emotional zusammenbrachte, weil sie ein gemeinsames Narrativ ermöglicht, dass auch Gruppen weit über fünfzig Mitglieder auf etwas Kollektives und von allen Geteiltes einschwört. Heute lebt dies in den großen Erzählungen von Nationen, aber auch im Kleinen, ob in der Familie, im Sportverein oder in der Firma, weiter. Es sind die gemeinsamen Geschichten, die Mythen, die erst die Grundlage dafür schaffen, dass Menschen sich als Gemeinschaft, als „Wir“ verstehen, effektiv zusammenarbeiten und solidarisch miteinander sind.

Für die pandemische Gesellschaft wurde die Erzählung im Laufe der Monate eine der Polarisierung, der Dauergereiztheit und Rücksichtslosigkeit, gepaart mit (bewussten) Widersprüchlichkeiten, gegenseitigen Schuldzuweisungen, keiner erkennbaren Fehlerkultur und Zögerlichkeit der politischen Entscheidungsträger. Diskursbestimmend sind scheinbar jene, die am lautesten schreien, auch wenn sie den Boden der Vernunft und Rechtsstaatlichkeit verlassen.

Das geht sogar so weit, dass Begriffe wie „Gemeinwohl“, „Eigenverantwortung“ oder „Diskriminierung“ folgenlos und unwidersprochen ins Gegenteil dessen gekehrt werden können, was sie ursprünglich meinten. Durch solch eine semantische Umdeutung – wenn man es plakativ will: durch den Verlust der gemeinsamen Sprache – wird eine kollektive Erzählung verunmöglicht. Auf dieser Grundlage nach gegenseitiger Solidarität zu rufen, kann nur Gleichgültigkeit, Ablehnung bis hin zu kaltem Zynismus hervorrufen. Neben den scheinbar ins Unendliche steigenden Infektionszahlen ist der Verlust der gemeinsamen Erzählung die mitunter größte Gefahr, der sich unsere Gesellschaft gegenübersieht.

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