Die 3A der europäischen Asylpolitik: Abschottung, Abschreckung, Auslagerung

Judith Kohlenberger
am 04.10.2021

Ein Jahr nach der Vorstellung des EU-Migrationspakt, von Kommissionspräsidentin von der Leyen mit hehren Worten als „Neustart“ in der Asylpolitik angekündigt, ist leidlich wenig passiert. Nun legt die EU-Kommission mit dem Aktionsplan gegen Schlepperei und Menschenhandel einen ersten Zwischenschritt auf dem Weg zu einer umfassenden Reform ihrer Asylpolitik vor. Immerhin kämen 90 Prozent der irregulären Migranten mittels Schlepper in die EU. Dass in Abwesenheit legaler Fluchtwege kaum Alternativen für Schutzsuchende bestehen, um in Freiheit und Sicherheit zu gelangen, wird dabei geflissentlich ausgeblendet, ebenso wie man humanitäre Fragen der Aufnahme, Verteilung und Unterbringung bisher umschiffte.

Stattdessen fokussiert der Aktionsplan auf die „harten“ Themen im Bereich der Grenzsicherung. Erstens soll der Kampf gegen Schlepperei forciert werden. Geplant sind dafür Partnerschaften mit Ländern entlang der wichtigsten Transitrouten. Damit greift die Kommission wieder auf ihr derzeit populärstes Instrument in der Migrationspolitik zurück, nämlich die Auslagerung von Asylpraktiken und Grenzkontrollen an Drittstaaten. Ähnlich wie bei Rückführabkommen wurde bis dato aber nicht präzisiert, welche Länder sich zu solchen Partnerschaften bereit erklären würden, und zu welchem Preis.

Letzteres bleibt auch vor dem Hintergrund das EU-Türkei-Deals, welcher bereits mit sechs Milliarden subventioniert wurde und nun weiter aufgestockt werden soll, fragwürdig. Die regelmäßigen Drohgebärden des türkischen Premiers Erdogan verdeutlichen nämlich, in welch vulnerable Position sich die EU durch ihre externalisierten Asylpraktiken bringt. Immer wieder setzt Erdogan die 3,7 Millionen syrischen Geflüchteten, die in der Türkei untergebracht sind, als Spielball in außenpolitischen Konflikten ein, zuletzt beim Gasstreit im Mittelmeer. Die EU macht sich damit von Ländern mit teils zweifelhafter menschenrechtlicher Lage erpressbar und nimmt sich selbst wertvollen Verhandlungsspielraum.

Dass sich die Kommission dieser Pattstellung wohl bewusst ist, verdeutlicht der zweite zentrale Punkt des Aktionsplans: Paradoxerweise will man nämlich in Zukunft gegen genau solche „Instrumentalisierung von Migranten durch staatliche Akteure“, die die EU zumindest in Teilen mitverursacht hat, energischer vorgehen. Diese Kampfangsage gegen sogenannten „hybride Kriegsführung“ ist wohl als wenig subtile Antwort auf die regelmäßigen Provokationen des belarussischen Machthabers Alexander Lukaschenko zu verstehen, der zuletzt immer wieder Geflüchtete als Druckmittel gegenüber der EU einsetzte. Man braucht nicht viel Fantasie, um sich an ähnliche Szenen an der türkisch-griechischen Grenze oder in der spanischen Exklave Ceuta erinnert zu fühlen.

Im Gegensatz zu Erdogan versteht es Lukaschenko aber offenbar, mit geflüchteten Menschen nicht nur geopolitische, sondern auch wirtschaftliche Interessen durchzusetzen: Beim Pressetermin zum Aktionsplan berichtete die zuständige Kommissarin für Inneres, Ylva Johansson, dass Belarus bis zu €10.000 von Migranten verlange, um sie zunächst in inländischen Hostels unterzubringen und in weiterer Folge an die Grenze zu Polen, Lettland oder Litauen zu transportieren, wo sie den Übertritt versuchten. Wenn ihnen die EU-Staaten die Überquerung der Grenze verwehren oder sie sogar (im offenen Bruch mit geltendem Völkerrecht) gewaltsam zurückdrängen, enden Schutzsuchende im Niemandsland zwischen den Ländern. Sie können weder vor noch zurück und sind Witterung, Nahrungsmittelknappheit und Willkür der Grenzpolizei ausgesetzt. Berichten zufolge sind bereits fünf Menschen ums Leben gekommen. Nachdem Polen den Ausnahmezustand ausgerufen hat, haben Hilfsorganisationen und Journalist*innen zum sumpfigen polnisch-belarussischen Grenzgebiet keinen Zutritt. Selbst die Unterstützung durch Frontex wollte die polnische Regierung bis zuletzt nicht annehmen. Ob die im Aktionsplan angedachten Maßnahmen wie Rücknahme von Visaerleichterungen für Angehörige des belarussischen Regimes oder Handelssanktionen ausreichend Druck auf Lukaschenko ausüben, um den akkordierten Grenzsturm zu beenden, bleibt fraglich.

Drittens und letztens sieht der Aktionsplan vor, dass Arbeitgeber*innen, die Migrant*innen ohne gültigen Aufenthaltsstatus illegal beschäftigten (sogenannte „Schwarzarbeit“), stärker sanktioniert werden. Dies betrifft vor allem den Niedrig- und Niedrigstlohnsektor, darunter Bauwesen, Reinigungsdienste, Landwirtschaft und Gastgewerbe. In den meisten westeuropäischen Ländern, darunter auch Österreich, zeichnen sich diese Branchen durch einen besonders hohen Anteil migrantischer Arbeitskräfte aus, gleichzeitig aber auch durch schlechte Arbeitsbedingungen, prekäre Anstellungsverhältnisse und hohes Missbrauchspotential.

Während der Vorstoß, mehr Kontrollen und schärfere Strafen für Unternehmen einzuführen, generell zu begrüßen ist, stellt sich die Frage nach legalen Beschäftigungsalternativen, vor allem für jene Menschen, deren legaler Aufenthaltstitel von (verzögerten) behördlichen Entscheidungen abhängig ist. Das sind vorrangig Asylwerbende, die hierzulande teils monate- oder jahrelang auf ihren Bescheid warten. Hier besagt die EU-Aufnahmerichtlinie zwar eindeutig, dass ihnen nach spätestens neun Monaten Aufenthalt im Zielland Zugang zum Arbeitsmarkt zu gewähren sei. Doch ist diese Vorgabe in vielen Mitgliedstaaten nicht oder nur unzureichend umgesetzt, so auch in Österreich.

Zwar wurde hierzulande das Arbeitsverbot für Asylwerbende vom Verfassungsgerichtshof gekippt, jedoch rein aus formalrechtlichen Gründen. Seitens des Arbeitsministeriums hat man umgehend ankündigt, diese „gesetzliche Lücke“ baldigst schließen zu wollen. Die Frage, welche Optionen Asylwerbenden dann noch bleiben, um auf legalem Weg Einkommen zu generieren und nicht (weiter) in illegale Güter- und Dienstleistungsmärkte gedrängt zu werden, wird weder national noch im EU-Aktionsplan beantwortet.

Doch nicht nur in diesen Belangen bleibt die EU-Kommission Antworten schuldig. In der Ausverhandlung der Kernelemente des Migrationspakts, nämlich der fairen Verteilung von Geflüchteten unter den EU-Mitgliedstaaten und der damit einhergehenden Entlastung der Länder mit Außengrenzen (Italien, Griechenland, Spanien) ist man seit September 2020 keinen Schritt weitergekommen. Zu vehement ist die Ablehnung der Visegrád-Staaten (und Österreichs), zu groß die Gefahr einer weiter voranschreitenden Polarisierung der EU, mitten in der größten Gesundheitskrise seit ihrer Gründung. Von „verpflichtender Solidarität“, die die Kommission noch vor einem Jahr einforderte, ist wenig zu spüren.

Was jedoch immer deutlicher in der politischen Rhetorik zu Tage tritt, ist die diskursive Verknüpfung von Migration mit Kriminalität, Illegalität und Sicherheitspolitik. Vergeblich sucht man im Aktionsplan ein unaufgeregtes, nüchternes Verständnis von Migration als „a fact of life“, wie es die Kommissionspräsidentin noch vor einem Jahr bezeichnete. Stattdessen wird eine post-2015 Politik fortgesetzt, die sich mit den 3As – Abschottung, Abschreckung und Auslagerung – zusammenfassen lässt.

Wie wenig tauglich diese aber in der Praxis sind, sollten die letzten sechs Jahre gezeigt haben. Seit 2015 werden die 3As mit voller Härte umgesetzt, die Herausforderungen und Problemlagen globaler Fluchtbewegungen für die EU sind aber nicht zurückgegangen, im Gegenteil: Moria, Belarus, Ceuta und der Balkan sind nur einige der Hotspots der letzten Monate, in denen die europäische Asylpolitik ihre Sollbruchstellen offenbarte. Die Debatte um die Aufnahme von Geflüchteten aus Afghanistan zeigte zuletzt, dass 2015 weiterhin als Schreckensgespenst politischer Entscheidungsträger*innen sämtlicher Couleur herhalten muss, eben weil man noch immer genauso weit von einer nachhaltigen Lösung der Flüchtlingsfrage entfernt ist wie vor sechs Jahren. Die Leidtragenden aber bleiben jene, deren verbriefte Rechte die Europäische Kommission am heurigen 70. Jahrestag der Genfer Flüchtlingskonvention groß gefeiert hat.

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