Zuverdienst für Arbeitslose? Debatte ohne Evidenz

Lisa Hanzl
am 29.09.2021

Seit Wochen wird intensiv über die Neugestaltung des Arbeitslosengeldes diskutiert. Ein zentraler Streitpunkt ist dabei der Zuverdienst für Arbeitslose in Höhe der Geringfügigkeitsgrenze. Manche argumentieren, dass eine geringfügige Anstellung während der Arbeitslosigkeit deren Dauer verlängert. Die Forderung nach der Streichung des Zuverdienstes, wie von AMS-Chef Johannes Kopf angeregt und Arbeitsminister Kocher propagiert, passt sich dabei nahtlos in eine Reihe repressiver Regelungen für Arbeitslose ein: Zumutbarkeitskriterien sollen ausgedehnt und das Arbeitslosengeld degressiv gestaltet werden. Für die Streichung des Zuverdienstes gäbe auch die Wissenschaft ihren Segen, meinte der AMS-Chef kürzlich auf Twitter. Doch erstens erteilt die Wissenschaft einem Vorschlag selten vorbehaltlos die Absolution. Zweitens zeigt die Forschung gerade für langzeitarbeitslose Menschen das Gegenteil, nämlich deutliche Vorteile einer geringfügigen Anstellung.

Akteur:innen der Debatte von Johannes Kopf bis zu Monika Köppl-Turyna, der Chefin des marktliberalen Think Tanks Eco Austria, beziehen sich auf eine Studie von Eppel und Mahringer (2018). Diese zeigt, dass Personen, die während ihrer Arbeitslosigkeit beginnen, geringfügig zu arbeiten, länger arbeitslos bleiben und später im neuen Job weniger verdienen. Hier weist die Evidenz scheinbar klar negative Effekte aus. Doch die Effekte sind relativ klein: Die Arbeitslosigkeit verlängert sich nur um sieben bis 23 Tage. Statistisch hochsignifikant sind diese Effekte außerdem nur für einige wenige Personengruppen, etwa für Männer oder für Personen mit höherem Bildungsgrad. Auch junge Menschen und Kurzzeitarbeitslose bleiben etwas länger arbeitslos. Die Schlussfolgerungen gelten also lediglich für Personen, die es auf dem Arbeitsmarkt ohnehin leichter haben. Aus diesen Ergebnissen abzuleiten, dass die gesamte Forschung hinter der Abschaffung des Zuverdienstes steht, ist entweder politisch motivierte Rhetorik gegen Arbeitslose oder aber schlechte wissenschaftliche Praxis.

Für langzeitarbeitslose Menschen ist der Effekt nicht nachweisbar. Für sie gilt laut der Studie das Gegenteil. Eine geringfügige Beschäftigung verkürzt die Dauer bis zum Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt, wenn auch nur um einige Tage. Als langzeitarbeitslos gelten hier außerdem nur Personen, die zwischen ein und zwei Jahren nicht in Beschäftigung waren. Menschen, die länger keinen Job hatten, sind nicht Teil der Studie. Untersucht wird zudem der Zeitraum von 2008 bis 2010 – die wirtschaftlich turbulenten Jahre nach der Finanzkrise, in denen es in Österreich allerdings nur rund 50.000 Langzeitarbeitslose gab. Mit Stand Ende August sind derzeit mehr als dreimal so viele, nämlich 166.908 Menschen langzeitarbeitslos. Der positive Effekt, wonach geringfügige Beschäftigung den Wiedereinstieg von Langzeitarbeitslosen beschleunigt, könnte heute also für wesentlich mehr Menschen relevant sein.

Die Evidenz, die von Kopf, Kocher und Co. zur Argumentation gegen den Zuverdienst für Arbeitslose herangezogen wird, zeigt bestenfalls, dass die Auswirkungen der geringfügigen Beschäftigung je nach Personengruppe variieren. Daraus lässt sich kein klarer Schluss ziehen. Internationale Studien bestätigen das. Sowohl für Deutschland als auch Frankreich gibt es positive, negative oder nicht signifikante Auswirkungen von Zuverdienst auf die Länge der Arbeitslosigkeit. Aber ein Punkt kommt wiederholt auf: Für Langzeitarbeitslose ist in fast allen wissenschaftlichen Studien eine Verkürzung der Dauer der Arbeitslosigkeit beobachtbar.

Abgesehen davon, dass das Urteil der Wissenschaft also nicht eindeutig ausfällt, werden hier ausschließlich arbeitsmarktpolitische Effekte betrachtet. Sozialpolitische Aspekte – dass ohne geringfügige Beschäftigung besonders Niedrigverdiener:innen mehr Armut droht – werden außer Acht gelassen. 80 Prozent aller Personen mit Zuverdienst haben weniger als EUR 1.000 monatlich zur Verfügung. Geringfügige Arbeit wird also nicht dazu genutzt, die Arbeitslosigkeit zu verlängern, sondern um irgendwie über die Runden zu kommen. Eine fundierte wirtschaftspolitische Entscheidung würde sowohl die arbeitsmarktpolitischen als auch die sozialpolitischen Effekte abwägen.

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