Wer wir waren - Wer wir sein wollen

Janina Loh
am 13.04.2021

»Wir waren jene, die wussten, aber nicht verstanden, die begriffen, aber sich nicht vergegenwärtigen konnten, voller Information, aber ohne Erkenntnis, randvoll mit Wissen, aber mager an Erfahrung.« Zu diesem Urteil gelangt Roger Willemsen in der Rede seines letzten öffentlichen Auftritts am 24. Juli 2015. In der Tat – ein ernüchterndes Urteil. Und wenn wir uns so umschauen in der Welt der Menschen, die wir längst auf den gesamten Planeten und bis ins All ausgedehnt haben, können wir vermutlich nicht anders als zustimmen.

Die Menschen sind seltsame Wesen, widersprüchlich sogar, zugleich reich und arm, oder auch, um es mit dem Dramatiker Sophokles zu sagen: ungeheuerlich. In dessen altgriechischer Tragödie Antigone gibt es diesen einen Satz, der mich schon lange beschäftigt. Er lautet übersetzt etwa »Es gibt viele ungeheure Dinge, aber nichts ist ungeheurer als der Mensch«. Da ist zunächst die Doppeldeutigkeit des Wortes »ungeheuer« oder »ungeheuerlich«.

Das Ungeheure im menschlichen Wesen treibt mich als Technikphilosophin in seinen zahlreichen Facetten schon aufgrund meiner Profession um. Dinge, die uns ungeheuer erscheinen, sind häufig groß und mächtig, zuweilen auch unerklärlich und deshalb vielleicht sogar gruselig, sie sind uns tatsächlich nicht »geheuer«, können sowohl schlimm und gefährlich als auch wunderbar und nicht- bzw. übermenschlich in einem großartigen Sinne sein.

So etwa von Menschen geschaffene Technologien und Techniken, also Artefakte und Praktiken. Sie reichen von wie ungeheure Wunder wirkenden Dingen wie der Sprache und Schrift, dem Buchdruck, Medikamenten wie etwa Impfstoffen, die, wenn wir es nur wollen, dann sogar in der Windeseile weniger Monate entwickelt werden können, Flugzeugen, dem Gesang, sportlichen Höchstleistungen und vermutlich auch dem Internet bis hin zu ungeheuerlich zerstörerischen Schöpfungen wie Waffen, Atombomben, Giften, Folterinstrumenten und dem Krieg als einem der sicherlich verabscheuungswürdigsten menschlichen Konglomerate sehr spezifischer Tod und Verderben bringender Technologien und Techniken.

Ja, in der Tat, es gibt viele ungeheure Dinge auf diesem Planten und viele davon, wenn auch sicherlich nicht alle wurden von Menschen erschaffen. Das entspricht dann sicherlich auch Willemsens Einsicht, dass wir Menschen »voller Information, aber ohne Erkenntnis« sind. Wir können so viel und lernen aus unseren Fehlern doch so wenig. Darüber hinaus erfahren wir über die von Menschen kreierten ungeheuren Dinge auch viel über das vielschichtige und komplexe menschliche Wesen, das sich durch zahlreiche und zuweilen widersprüchliche charakterliche Merkmale und individuelle Züge auszeichnet.

In der Betrachtung eines Roboters etwa, der scheinbar wie von Geisterhand selbstständig bestimmte Tätigkeiten ausführt, mit uns spricht und manches vielleicht sogar besser kann als wir Menschen, bewundern wir zugleich auch menschliche Eigenschaften wie die Neugierde, Kreativität und sicherlich auch die Fähigkeit, sich zu kümmern und zu sorgen als den ernsthaften guten Willen, Sinnvolles und andere Menschen Unterstützendes zu erschaffen.

Stehen wir hingegen zum Beispiel in Fukushima, wie ich im Mai 2019 im Rahmen der Dreharbeiten zu Marc Bauders (an Willemsens Rede orientierten) Film Wer Wir Waren, sprach- und fassungslos angesichts all des Leids, dass diese Nuklearkatstrophe verursacht hat, sind wir auch entsetzt über die menschliche Gier nach Geld und Macht, über die vor nichts Halt machende Herrsch- und Kontrollsucht, über Ignoranz, Narzissmus und Arroganz der Menschen, was doch letztlich nur ihre ungeheure Erbärmlichkeit offenbart.

Fukushima ist im Übrigen ein passendes Stichwort, denn wir müssen gerade gleich zwei leidvolle und sehr ähnliche Jahrestage begehen, nämlich am 11. März eben den zehnten der Nuklearkatastrophe in Fukushima sowie am 26. April bereits den 35. der Nuklearkatastrophe in Tschernobyl. Eine traurige Bestätigung von Willemsens These, dass wir schon vor vielen Jahren viel konnten und leider absolut nichts daraus gelernt haben. Und damit sind wir bei dem zweiten interessanten Bedeutungsaspekt des altgriechischen Zitats aus der Antigone angelangt, dass es nämlich wirklich sehr viele im Guten wie im Schlechten ungeheure Dinge gibt, all dies uns aber schließlich lediglich darüber Aufschluss gibt, dass das wohl ungeheuerste Wesen im Kosmos der Mensch selbst sein muss, der doch all die ungeheuren Dinge erschaffen hat.

Nichts ist ungeheurer als dieses seltsame Wesen, wunderschön, mit gutem Herzen und den besten Intentionen und zugleich garstig und verachtenswert in seinen leider so zahlreichen dunklen Momenten. Angesichts dieser Ungeheuerlichkeit des Menschen sind viele, die sich in Definitionen versucht haben, schlicht verstummt – manche erstaunt, andere aus Demut oder Angst. Zu unkontrollierbar, zu widersprüchlich und paradox schien ihnen der Mensch zu sein.

Was bleibt uns denn noch zu sagen, welche Erklärungsversuche werden dem Menschen überhaupt gerecht, welche Prognosen erscheinen nicht einseitig und kurzsichtig, wenn doch ein eiliger Blick in die menschliche Geschichte die Wankelmut dieses Wesens offenbart, die unglaublichen Höhen, die es zwar zu erklimmen im Stande ist, die Abgründe aber, in die es sehenden Auges wiederholt herabsteigt. Andere, wie etwa die Religionen, sind sich in Drohungen ergangen – dabei immer optimistisch an dem großartigen Ungeheuren im Menschen festhaltend, das in der Lage sei, sich zu bändigen, das niederträchtige Ungeheure in sich zu unterwerfen und auf diese Weise der Hölle zu entgehen und in den Himmel ein- bzw. zurück zu kehren.

Wieder andere, häufig Anthropologinnen (im Folgenden werden alle Geschlechter in der weiblichen Form mit gemeint), versuchen entweder, die schlechten Seiten des Menschen als seine bloß schwachen Momente zu deklassifizieren, die vorbei gehen, wenn wir uns nur ordentlich bemühen, kultivieren, zivilisieren, anstrengen, domestizieren, züchtigen. Oder aber sie werden als eigentlich nichtmenschlich verdammt, als Formen der Ungeheuerlichkeit, in denen der Mensch sich selbst am fremdesten, von seiner wahren Natur am Weitesten entfernt, eben am Un- bzw. Nichtmenschlichsten ist.

So verfährt etwa eine der wirkmächtigsten anthropologischen Positionen in unseren Gesellschaften, nämlich der Humanismus. Der Humanismus, der auf dem altlateinischen Begriff der »humanitas« beruht, ist ursprünglich eine anthropologische Theorie, den Menschen als ein der Selbstkultivierung fähiges Wesen nicht nur von den nichtmenschlichen Tieren zu unterscheiden, sondern auch von den ›niederen‹ menschlichen Gestalten, den Barbarinnen.

Der Mensch, so die antike humanistische Idee, ist nur dann Mensch, wenn er seine humanitats, also kultivierte, zivilisierte Philanthropie, trainiert und sich sein Leben lang um sie bemüht. Dann und nur dann ist der Mensch wirklich Mensch, wenn er ungeheuerlich in dem Sinne wird, dass er über sich selbst hinaus wächst, zu einem wunderbaren und großartigen Wesen wird und sich stets anstrengt, die Höhen, die seine Natur ihm auferlegt hat zu erreichen, auch nicht mehr zu verlassen. Tiere, Pflanzen, Maschinen und Barbarinnen sind deshalb keine Menschen, weil sie der (aufklärungshumanistischen) Vernunft, der Rationalität nicht fähig sind, die sich in Kunst, Wissenschaft und Kultur realisieren.

Sie sind Ungeheuer im rein negativen und auch moralisch diskreditierenden Verständnis, ein Abfall, eine ekelhafte Entartung, eine Entfremdung. Und damit sind wir bei dem dritten Bedeutungsaspekt des Zitats aus der Antigone angelangt, dem Interpretationsmoment, das mich derzeit ohne Frage am Meisten umtreibt. Denn liegt nicht zugleich eine unglaubliche Arroganz in der Behauptung, dass das Ungeheuerste im Kosmos der Mensch ist – eine Behauptung, die von Menschen ja schließlich selbst getroffen wird?! Wie kommen wir denn bitteschön dazu, das zu glauben, angesichts all der wundersamen Dinge, die um uns herum, auf diesem seltsamen Planeten, in diesem ganzen verrückten Universum tagtäglich passieren und die doch wenig bis gar nichts mit dem selbstbewussten kleinen Menschlein, das wir doch nur sind, zu tun haben.

Ebenso ernüchternd endet dann letztlich auch Willemsen in seiner Rede, wenn er schließt »Wir waren die, die verschwanden. Wir lebten als der Mensch, der sich in der Tür umdreht, noch etwas sagen will, aber nichts mehr zu sagen hat.« Bislang waren wir vermutlich wirklich immer dieser Mensch gewesen. Der Mensch im Weggehen, der sich in der Tür umdreht, aber feststellt, dass er nach so vielen Kriegen, Nuklearkatastrophen und Pandemien, die er verschuldet hat, nun wirklich nichts mehr sagen, sondern in der Tat lieber so schnell wie möglich abtreten sollte.

Ein trauriges Bild, das wir abgeben, finden Sie nicht auch?! Aber ich möchte glauben, dass es anders geht. Und auch Marc Bauder beendet seine Kinodokumentation – Spoiler Alert – nicht ohne diesen berühmten Funken der Hoffnung, den allein wir brauchen, um weiter an einer besseren Welt mitzuwirken. Einer Welt, in der Donald Trump schließlich doch abgewählt wird, einer Welt, in der letztlich genügend Impfstoffe für alle entwickelt werden, einer Welt, in der wir den Einfluss, den wir haben (wie klein oder groß wir ihn nun tatsächlich einschätzen mögen), nicht nur zum Wohle einer elitären Gruppe Auserwählter nutzen!

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