Ein Jahr Coronavirus: Menschenrechte vs. Menschenrechte vs. Menschenrechte

Ralph Janik
am 07.04.2021

Seit über einem Jahr erleben wir in Österreich die massivsten Grundrechtseingriffe der Zweiten Republik. Der Spagat zwischen Freiheit, Bildung und dem Schutz der Gesundheit will anscheinend einfach immer noch nicht gelingen. Eine menschenrechtliche Bestandsaufnahme.

Schulen zu, Schulen auf, Geschäfte zu, Geschäfte auf, Skilifte zu, Skilifte auf. Jeder hat eine Meinung, zusätzlich zu den fast neun Millionen Fußball-Teamchefs gibt es mittlerweile fast neun Millionen Experten in Sachen neuartiges Coronavirus und was alles damit einhergeht. Wir waren und sind ja alle dabei, eine Rekapitulation der letzten Monate wäre hier müßig.

Also darf man eine kleine Metadiskussion wagen: Nämlich zur coronavirusbezogenen Diskussion und darüber, wie hier Menschenrechte instrumentalisiert und bisweilen gegeneinander ausgespielt werden. Allen voran die FPÖ hat sich ja den Slogan „Demokratie, Grundrechte an die Fahnen geheftet und wiederholt von einer „Corona Diktatur“ respektive „Anschobers Virus Diktatur“ gesprochen und sich als Speerspitze der Unzufriedenen positioniert.

Damit steht sie freilich nicht alleine da. Mit wesentlich mehr Augenmaß haben Public Health-Experten und Expertinnen seit Beginn der Krise die sozialen, wirtschaftlichen und auch gesundheitlichen „Kollateralschäden“ der Pandemiebekämpfung betont – durchaus berechtigte und wichtige Einwände, zumal ich mir hier nicht anmaßen möchte, sie einer fachlichen Beurteilung unterziehen zu können.

Was kann die Juristerei hier beitragen? Nun, bei den zahlreichen Corona-Maßnahmen spielen unterschiedlichste Grund- und Menschenrechte eine Rolle, zu deren Einhaltung Österreich verfassungs- und völkerrechtlich verpflichtet ist: Vom Eigentum (Artikel 5 Staatsgrundgesetz 1867 Artikel 1 erstes Zusatzprotokoll Europäische Menschenrechtskonvention, kurz EMRK) inklusive der damit einhergehenden Wirtschaftsfreiheit über die allgemeine Bewegungsfreiheit (Artikel 4 Staatsgrundgesetz, Artikel 2 viertes Zusatzprotokoll zur EMRK) und die Versammlungsfreiheit bis hin zur Bildung (Artikel 2 erstes Zusatzprotokoll zur EMRK oder Artikel 13 Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte), Maßnahmen zum Schutz des Lebens (Artikel 2 EMRK) und der Gesundheit im Allgemeinen (Artikel 12 Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte).

Soweit, so gut. Nur: Keine dieser Verpflichtungen gilt absolut. Zum ersten Absatz, der das jeweilige Menschenrecht postuliert, gibt es oft einen zweiten, der festlegt, wie stark und aus welchen Gründen es eingeschränkt werden darf, Schutzverpflichtungen sind in der Regel schwer zu konkretisieren.

Staaten genießen damit einen gewissen Spielraum, der gerade heute so wichtig ist: Demonstrationen können an Auflagen geknüpft oder gar untersagt werden, wenn aufgrund der Organisatoren und Teilnehmer bereits im Vorfeld klar ist, dass bewusst keine Abstände und sonstige Vorschriften eingehalten werden (beziehungsweise wenn die Teilnehmer in eng besetzten Bussen anreisen). Restaurants aufgrund der Ansteckungsgefahr in geschlossenen Räumen geschlossen werden. Schulen aus demselben Grund auf Fernlehre umgestellt werden. Ausreisetests verlangt werden, um Infektionen lokal einzugrenzen. Und so weiter und so fort.

Die Überprüfung der Zielgerichtetheit und Verhältnismäßigkeit einzelner Maßnahmen obliegt gegebenenfalls den Gerichten. Dabei ist der Schutz der Gesundheit ein gewichtiges Argument, aber kein Persilschein. So hat es das Gesundheitsministerium bekanntermaßen nicht geschafft, Maßnahmen wie die Maskenpflicht in Schulen oder den Mindestabstand in der Gastronomie vor dem Verfassungsgerichtshof ausreichend zu begründen. Was nicht heißt, dass derartige Vorschriften nicht möglich wären – es braucht nur eben mehr als das Zauberwort „Corona“ allein.

Umgekehrt können Gerichte auch zweifelhafte Entscheidungen treffen. Unlängst hat ein Wiener Verwaltungsrichter die Untersagung von Corona-Demonstrationen Ende Jänner mit einer (anscheinend) medizinisch höchst fragwürdigen Begründung zurückgewiesen. Ein gutes Anschauungsbeispiel dafür, dass Juristen bei der Beurteilung von Fragen aus anderen Fachbereichen besser externe Expertise einholen sollten. Juristische Selbstüberschätzung tut dem Rechtsstaat nicht gut.

Womit sich der Kreis schließt. Zur Erinnerung, und so banal es auch klingen mag: Wir haben es nach wie vor mit einer gesamtgesellschaftlichen Kraftanstrengung zu tun, bei der weder Politiker und sonstige Interessenvertreter mit begrenztem Sichtfeld noch Mediziner, Juristen oder Ökonomen das einzige oder letzte Wort haben können. Seit Beginn der Pandemie geht es ja darum, die richtige Balance zwischen Schutz der Gesundheit und Aufrechterhaltung der Versorgung auf der einen Seite und Bereichen wie der Schule oder „der Wirtschaft“ auf der anderen zu finden.

Bei alledem schließt das eine das andere nicht aus, sondern geht – umgekehrt – Hand in Hand: Länder mit hoher (Über-)Sterblichkeit haben auch wirtschaftlich stark gelitten, Länder mit geringen Zahlen weniger. Es gibt „in Bezug auf eine starke Lockerung der Maßnahmen keinen Konflikt zwischen wirtschaftlichen und gesundheitlichen Kosten“ wie es das ifo Institut ausdrückt.

Das gilt auch für die unterschiedlichen Menschenrechte. Sie stehen eben nicht im Widerspruch zueinander, jedenfalls nicht zwangsläufig. Vielmehr gelten sie als unteilbar („indivisible“) und voneinander abhängig („interdependent“). Das eine gibt’s ohne das andere nicht (et vice versa). Ganz ohne Diktatur.

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