Sondervoten am Verfassungsgerichtshof?

Ralph Janik
am 24.02.2021

Es ist schon fast ein klassisches, jedenfalls kein neues Thema. Während Deutschland das Sondervotum am Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe schon 1970 eingeführt hat, ist das in Österreich bis heute nicht möglich. Das macht aber nichts.

Die pro und contra-Argumente liegen dementsprechend lange auf dem Tisch, wobei beide Seiten die Autorität und Glaubwürdigkeit des Gerichts stärken beziehungsweise wahren wollen. Sondervoten schaffen mehr Transparenz und Nachvollziehbarkeit und eine gute Diskussionsgrundlage, sagen die einen. Die anderen sehen darin wiederum eine Gefahr für das einheitliche Auftreten des Gerichts und die Harmonie unter den 14 Richtern und Richterinnen.

Wie man juristisch dazu steht, liegt nicht zuletzt an der jeweiligen akademischen und beruflichen Prägung. Sondervoten gehören in Ländern aus dem anglo-amerikanischen Rechtskreis seit jeher zur Grundausstattung von (Höchst-)Gerichten. Was auch daran liegt, dass die Stellung der Richter und Richterinnen ganz allgemein von jener in Kontinentaleuropa abweicht: Dort schaffen sie allgemein gültiges (Fall-)Recht, hier nicht (beziehungsweise weniger direkt). Richterliche „Stars“ wie der 2016 verstorbene Supreme Court-Richter Antonin Scalia sind bei uns daher selten.

Warum nicht das Beste aus beiden Welten? Wer Beispiele für Hybridformen sucht, möge ins Völkerrecht blicken. Beim Internationalen Gerichtshof, dem „Weltgericht“ der Vereinten Nationen, oder dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte sitzen Richter und Richterinnen aus den unterschiedlichsten Rechtstraditionen, die eigene (abweichende) Meinungen abgeben können.

Dort können wir beide eingangs erwähnten Tendenzen erkennen. In der Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshof in Den Haag finden wir einerseits diskursbereichernde Sondermeinungen, die gewissermaßen Teil des Kanons der Völkerrechtssprechung geworden sind (etwa jene von Richter Weeramantry zur nachhaltigen Entwicklung).

Andererseits können Richter ihre Sondermeinungen auch als Meinungsbühne zweckentfremden. Der brasilianische Richter Antônio Augusto Cançado Trindade hat sich in zehn Jahren am Internationalen Gerichtshof sage und schreibe 297 Mal (!) selbst zitiert. Zur Relation: Auf niemand anderen wurde in der 70-jährigen Geschichte des Gerichts so oft verwiesen, der Israeli Shabtai Rosenne kommt auf die meisten (233) Nennungen (was daran liegt, dass er vornehmlich zum Gericht und prozeduralen Fragen publiziert hat), gefolgt von den Briten Hersch Lauterpacht (119) und Gerald Fitzmaurice (67) – jeweils ohne Selbstzitate (!). Was bleibt, ist Futter für den gern geäußerten Vorwurf, dass im Völkerrecht ohnehin nichts klar sei, eine nette Spielwiese für Argumentationen aller Art, aber eben kein einheitliches Rechtsgebiet.

Ein anderes Problem besteht in der Gefahr, dass Staaten von „ihren“ Richtern erwarten, als „Vertreter“ zu handeln. Mit Unparteilichkeit und Unabhängigkeit hat das dann freilich weniger zu tun. Deswegen haben Streitparteien ohne dauerhaften „eigenen“ Richter am Internationalen Gerichtshof die Möglichkeit, für ihr Verfahren (ad hoc) einen zu bestellen. Beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entsendet jede Vertragspartei überhaupt von Haus aus ein Mitglied.

Wenig überraschend ist der Bias in dissenting opinions von Richtern aus den beklagten Ländern oft nur allzu offensichtlich: Ein besonders unrühmliches Beispiel ist die Rechtsmeinung des russischen Richters zur Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, das dortige „Gesetz zum Schutz der Moral von Kindern“, mit dem „homosexuelle Handlungen zur Förderung von Homosexualität unter Minderjährigen“ verboten wurden, als Verletzung des Rechts auf freie Meinungsäußerung einzustufen: So schrieb er von der Notwendigkeit des Schutzes der traditionellen Familie und von Kindern, deren Privatleben wichtiger sei als die Meinungsfreiheit von Homosexuellen – eine Art „Fenster in eine illiberale Weltsicht“, wie es ein Kommentator nannte.

Lassen sich die Erfahrungen mit internationalen Gerichten auf Österreich übertragen? Durchaus, wenn auch – selbstredend – unter Berücksichtigung der fundamentalen Unterschiede (mutatis mutandis, um noch ein wenig bemühtes Juristenlatein einzustreuen).

Mit Sondervoten würden Verfassungsrichter und -richterinnen jedenfalls selbst verstärkt in den öffentlichen Fokus und damit den Sog der Polarisierung geraten. Dabei zeichnet sich der Verfassungsgerichtshof gerade dadurch aus, dass er, wie es sein „Vater“ Hans Kelsen ausdrückte, „weil von vornherein an der Machtausübung nicht beteiligt, in keinem notwendigen Gegensatz zu Parlament und Regierung steht“.

Gerade bei moralisch oder politisch aufgeladenen Fragen wären seine Mitglieder nicht mehr nur mittelbar dem Druck von Parteien oder sonstigen Interessensgruppen ausgesetzt, sondern direkt. Im Extremfall endet es damit, dass sie zu Projektionsflächen verarbeitet werden: Ein besonders drastisches Beispiel dafür ist ein Cover der britischen „Daily Mail“, das drei Richter mit der Schlagzeile „Enemies of the People“ zeigte, weil sie es gewagt hatten, den Austritt aus der EU zusätzlich zum Referendum an die Zustimmung des britischen Parlaments zu knüpfen.

Außerdem hat die Coronavirus-Pandemie einmal mehr gezeigt, dass medientaugliche Abweichler überproportional viel Aufmerksamkeit bekommen können – im Übrigen ungeachtet dessen, ob ihre Meinung auf einem soliden empirischen oder argumentativen Fundament fußt: Hauptsache dagegen, der (pseudo-)wissenschaftliche Rebell generiert eben mehr Klicks oder Zuseher als jemand, der dem angehört, was als „Mainstream“ wahrgenommen wird. Ein einzelner Verfassungsrichter würde dann bisweilen so viel, wenn nicht gar mehr Beachtung bekommen wie alle restlichen zusammen.

Zwar ist bei Mitgliedern des Verfassungsgerichtshofs üblicherweise von der Einhaltung juristischer (Mindest-)Standards auszugehen. So abgehoben es auch klingen mag: Es besteht aber Grund zur Annahme, dass es beim öffentlichen Umgang mit ihren Thesen zu einem bisweilen drastischen Diskursverfall kommen würde. Streitbare Aussagen zu streitbaren Themen entwickeln nur allzu schnell ein Eigenleben, am Ende werden aus vorsichtigen Bedenken und im Konjunktiv geäußerten (Gegen-)Ansichten klare und polemische Ansagen, Zitate werden aus dem Kontext gerissen, etc. Statt den sprichwörtlichen zwei Juristen mit drei Meinungen gäbe es in der Wahrnehmung dann eben 14 mit ungleich mehr Meinungen.

Zu guter Letzt bleibt die Frage nach der Notwendigkeit: Verfassungsrichtern und -richterinnen stehen wissenschaftliche Publikationen ebenso offen wie Kommentarseiten, Nachrichtensendungen oder Talkshows. Schon Hans Kelsen hat sich als Verfassungsrichter mit seiner Meinung oft genug nicht hinterm Berg gehalten und Kommentare zu strittigen Fragen verfasst (was ihm so einige Probleme eingehandelt hat). Wer seine (abweichende) Rechtsansicht Kund tun möchte, wird davon nicht abgehalten. Ob es zusätzlich den offiziellen Rahmen der Verfassungsgerichtshofsentscheidungen braucht, sei aber dahingestellt.

 

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