Corona-Maßnahmen: Die Grenzen des Rechts(staats)

Ralph Janik
am 26.11.2020

Ein Lockdown, den keiner wollte. Allein, in den letzten Wochen stiegen die Infektionszahlen rasant (auch im weltweiten Vergleich), Mitte November wurden zum ersten Mal über 100 COVID-19-Tote innerhalb eines Tages vermeldet – die Bewohner von Pflegeheimen sind besonders hart betroffen – und die Lage in den Spitälern ist nach wie vor ernst.

Darüber, wie es so weit kommen konnte, ob es hauptsächlich an der Bevölkerung oder der Regierung lag, lässt sich vortrefflich streiten. Am Ende des Tages haben freilich alle ihren Anteil. Zum einen dürfte der allgemeine Lockdown-Esprit des Frühjahrs einer Art „Corona-Müdigkeit“ gewichen zu sein. Was sich, wie weiter unten gezeigt werden soll, freilich auch auf die Einhaltungsbereitschaft hinsichtlich der Coronavirus-Maßnahmen auswirkt.

Zum anderen haben Kurz, Anschober & Co. gar lang zugewartet, wie auch der Blick über die Grenze zeigt: Die deutsche Bundesregierung hatte Anfang November „heftige“ Maßnahmen ins Spiel gebracht – bei besseren Zahlen als in Österreich – während die Diskussion über Verschärfungen hierzulande noch gar nicht angelaufen war.

Darauf, „überrascht“ worden zu sein, kann sich die Regierung jedenfalls nicht ausreden – Christian Drosten hatte bereits im April davon gesprochen, dass man aufgrund der guten Temperaturen zwar vielleicht glimpflich über den Sommer kommen könnte, aber „dann mit einer immunologisch naiven Bevölkerung in eine Winterwelle” reinlaufe: „Darauf müsste man sich vorbereiten. Das wäre gefährlich und man müsste sich dann auch darauf einstellen, dass man in den Lockdown gehen muss im Winter.“

Ein Lockdown, der nolens volens in rechtlichem Gewand daherkommt. Ganz allgemein wird dem neuartigen Coronavirus ja mit den Instrumentarien eines Verwaltungsapparats begegnet, der nun in ungeahntem Ausmaß unseren Alltag bestimmt. Dabei hat sich, zumindest meiner hypersubjektiven Wahrnehmung nach, auf den Pressekonferenzen der letzten Monate eine Art Verordnungsfetischismus eingeschlichen. Die Regierung verkündet (bisweilen hat sie sogar verkündet, später zu verkünden), wir hören zu.

Irgendwann gab es statt einer Lockerungs- dann eine Notmaßnahmenverordnung, die den Ausgang zu jeder Tages- und Nachtzeit einschränkt. Wie weit diese ins Private reicht, sieht man exemplarisch in den FAQ des Gesundheitsministeriums, die Fragen wie „Ich bin Single und wohne alleine. Darf ich meine beste Freundin, meinen besten Freund treffen?“ zu beantworten versuchen.

Nur: Derartige Regeln lassen sich kaum exekutieren. Der private Wohnbereich ist vom COVID-19-Maßnahmengesetz explizit ausgenommen. Im öffentlichen Raum scheint die Polizei wiederum wenig gewillt, wie im Frühjahr den Buhmann zu machen und andauernd zu prüfen, ob die Leute glaubhaft machen können, aufgrund einer der genannten Ausnahmen draußen zu sein – was nicht explizit verboten ist, bleibt ja erlaubt.

Hinzu kommt, dass die Regierung aufgrund der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs an Glaubwürdigkeit eingebüßt hat. Wie dieser erst Ende Oktober einmal mehr bemängelte, hatte der Gesundheitsminister als Verordnungsgeber – in der Praxis freilich in Abstimmung mit vielen anderen, die in diesem Land etwas zu sagen haben – es „gänzlich unterlassen … jene Umstände, die ihn bei der Verordnungserlassung bestimmt haben, so festzuhalten, dass entsprechend nachvollziehbar ist, warum der Verordnungsgeber die mit dieser Regelung getroffenen Maßnahmen für erforderlich gehalten hat.” 

Daher wurden zahlreiche Maßnahmen als gesetzwidrig aufgehoben: Vorbei die Zeiten, als der Kanzler verfassungsrechtliche Diskussionen noch verhältnismäßig einfach als „juristische Spitzfindigkeiten“ abtun konnte (es soll an dieser Stelle im Übrigen nicht unerwähnt bleiben, dass sich nicht nur die Bundesregierung schwer tut – auch die von der Stadt Wien eingeführte Registrierungspflicht war  laut Datenschutzbehörde rechtswidrig). Wer es darauf anlegt, hat gute Chancen, Recht zu bekommen. Die Einhaltung und Vollziehung der Verordnungen wird dadurch nicht einfacher.

Die große Krise des Gesundheitssystems ist damit auch eine kleine Krise der liberalen Demokratie. Unsere Rechtsordnung basiert im Idealfall schließlich nicht (primär) auf Zwang und der Sorge vor Strafe, sondern auf Freiwilligkeit.

Und in dem Maße, in dem die Rechtsunterworfenen (also alle) die zur Eindämmung des Coronavirus getroffenen Maßnahmen nicht mehr nachvollziehen können (oder wollen), wird ihre Umsetzung zunehmend schwieriger. Wir haben in Österreich weder die polizeilichen Ressourcen noch den politischen Willen, an jeder Ecke Corona-Sheriffs aufzustellen, um zu prüfen, ob Masken (richtig) getragen oder nur engste Kontakte getroffen werden (und das ist gut so).

Womit wir beim großen Schlagwort unserer Tage wären: Verantwortung. Also die für jeden einzelnen drängende Frage, was man vernünftigerweise tun soll – unabhängig von einer allfälligen Bestrafung. Ohne jetzt allzu pathetisch klingen zu wollen: Der Corona-Winter ist auch ein demokratischer Reifetest.

 

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