Wir lassen uns das „Wir“ nicht nehmen

Judith Kohlenberger
am 05.11.2020

Die Erarbeitung eines kollektiven Wir – denn ja, es ist Arbeit – ist nicht einfach, bequem oder selbsterfüllend, sondern oft das genaue Gegenteil. Das gilt nicht für ein Wir-Gefühl in der Mannschaft oder im Fußballverein, sondern auch für die großen Wirs dieser Welt, allen voran jene der Nation. „Das demokratische ‚Wir‘ ist keine Tatsache, die man einfach so konstatieren kann, sondern ein anstrengender Prozess, bei dem Zugehörigkeit immer wieder neu ausgehandelt und erstritten wird“, wie es der deutsche Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller in seinem Essay Was ist Populismus? formuliert.

Dafür gibt es zahlreiche historische Beispiele, allen voran die Tatsche, wie sich unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen nach und nach ihre politische Teilhabe in Form des Wahlrechts erstritten haben. Das gemeinsame Wir wurde und wird weiterhin aus Streit, Debatte und Auseinandersetzung geboren, um es pathetisch zu formulieren: aus Blut, Schweiß und Tränen. Diese Geburt des Wir ist nicht final, sondern vielmehr ein stetiger, lang andauernder, äußerst dynamischer Prozess. Ein Prozess, der nie abgeschlossen sein kann, weil immer neue Gruppen ins Wir drängen, während es andere gibt, die sich ob dieses Hineindrängens bedroht fühlen und es zu verhindern suchen. So war etwa die Frage „Gehört der Islam zu Österreich?“ noch vor fünfzig Jahren unvorstellbar, mittlerweile trauen sich selbst Politiker*innen rechts der Mitte immer weniger, die Frage absolut zu verneinen. In relativ kurzer Zeit hat sich die Konzeption des Wir also ziemlich radikal verändert, und sie tut es weiterhin. Die neuen und die neu hinzukommenden Teile des Wir sind im stetigen Austausch, vom vorsichtigen ersten Beschnuppern bis hin zur offenen Konfrontation. Vielleicht führt uns das zu einer neuen, auf den ersten Blick wenig optimistisch stimmenden Definition: Das Wir ist ein ständiger Streit, den wir aushalten müssen.

Tatsächlich scheinen derzeit die Konflikte ums Wir zuzunehmen. Gerade Debatten um Integration, Islam und Migration haben an Fahrt und Emotion gewonnen; die Grenzen des Sagbaren, des sogenannten Overton window, verschieben sich auf der politmedialen Bühne ins Extreme, und die gesellschaftliche Polarisierung scheint rasant voranzuschreiten. Das lässt sich auch empirisch untermauern. So kam es etwa zu einem deutlichen Anstieg von racially motivated hate crimes unter der Präsidentschaft Barack Obamas. Die Inauguration des ersten schwarzen Präsidenten hatte rassistisch gefärbte Attacken der rechtspopulistischen Tea-Party-Bewegung zur Folge und führte zum absurden Birther Movement, das sich zum Ziel gesetzt hatte zu beweisen, dass Obama gar nicht in den USA geboren sei. Zahlreiche Fälle rassistisch motivierter Polizeigewalt gegen junge schwarze Männer, allen voran der Tod des Teenagers Trayvon Martin im Jahr 2012, führten zu Rassenunruhen in Ferguson und Baltimore und der Geburt der BlackLivesMatter-Bewegung. Trauriger Höhepunkt eines neu aufgeladenen Klimas von Rassismus und Fremdenhass unter Obamas Präsidentschaft war das Massaker in Charleston, bei dem ein weißer Shooter neun Afro-Amerikaner*innen in einer Kirche erschoss. Der offenkundige Erfolg und die damit verbundene Macht eines schwarzen Mannes an der Spitze der Nation schienen lang übertünchte Konflikte zum Ausbruch zu bringen, die sich auch im Jahr 2020 mit der Ermordung Eric Garners fortsetzten.

Auch hierzulande lässt sich beobachten, wie zunehmende Durchmischung und Öffnung der Gesellschaft zu heftigen Debatten, Konflikten und mitunter gewalttätigen Auseinandersetzungen führten. Die Terroranschläge des 2. Novembers sind ein neuer Höhepunkt in der Erschütterung unseres Wirs. Zu Recht fragen sich Österreich nun: Wer hat in unserem „Wir“ überhaupt Platz? Wer darf dazugehören, wer nimmt sich selbst aus dem Spiel? Opfern wir unsere Sicherheit der Offenheit und Vielfalt? Ist ein engeres, scharf begrenztes Wir die richtige Antwort auf Terror und Gewalt, oder gilt es gerade jetzt, die offene Gesellschaft zu verteidigen?

Das Wir im 21. Jahrhundert ist zwar inklusiver geworden, befördert aber gleichzeitig Debatten über Überfremdung, Parallelgesellschaften und Kulturkämpfe, die nicht zuletzt durch extremistische Strömungen instrumentalisiert und angeheizt werden. Vergessen wir dabei aber eines nicht: All jene Konflikte und Debatten, die wir nun nach den Anschlägen des 2. November austragen und aushalten müssen, all die schmerzhaften Fragen, die wir uns zum Zustand und zum Zusammenhalt in unserer Gesellschaft stellen müssen, sind mitnichten ein Zeichen, dass die pluralistische, offene Gesellschaft gescheitert ist. Im Gegenteil: Erst durch Nähe entsteht Reibung. Wenn sich historisch stark segregierte gesellschaftlichen Gruppen wie unterschiedliche Klassen, Geschlechter und Ethnien zunehmend annähern und in Austausch miteinander treten, führt das mitunter zu Friktion. Denn Sichnäherkommen als Grundvoraussetzung eines gemeinsamen Wir bedeutet eben auch, dass man sich erstmal miteinander auseinandersetzen muss, dass man den Platz, den neu dazugekommene Gruppen zu Recht für sich beanspruchen, miteinander ausverhandelt. Hinter aufbrechenden Konflikten steht also eine Verteilungsdebatte, die so notwendig wie legitim ist.

Offen ausgetragene Konflikte in einer pluralistischen Gesellschaft sind somit nicht (nur) Zeichen einer verstärkten Polarisierung oder „Spaltung“, sondern können im Gegensatz auch als schmerzhafte, stechende Symptome des Ausverhandelns, Näherkommens und letztendlich Zusammenwachsens gelesen werden. Wie bei einer Wunde, die juckt und weh tut, wenn sie zusammenwächst und heilt, und die auch lange danach noch wetterfühlig und empfindlich bleibt, tut auch das Zusammenwachsen von unterschiedlichen Gruppen, die historisch bisher wenig(er) miteinander zu tun hatten oder gar im offenen Kampf zueinanderstanden, weh. Zusammenwachsen ist ein mitunter qualvoller und anstrengender Prozess, der nicht ohne Aufbrechen von Altem und Entstehen von Neuem abläuft; ähnlich dem Aufbrechen eines eitrigen Pickels, der erst danach zu heilen beginnen kann, und der sich im Heilungsprozess immer wieder mit Ziehen, Zwicken, Brennen und Krustenbildung äußern wird.

Umgelegt auf unsere Gesellschaft bedeutet das, dass schmerzhafte Konflikte, Debatten, Diskussionen und Auseinandersetzungen als notwendiger, ja sogar positiver Zwischenschritt zur tatsächlichen Heilung verstanden werden – in diesem Fall zu einem inklusiveren, größeren Wir und einer egalitären, pluralistischen Gesellschaft. Der deutsche Soziologe Aladin El-Mafaalani bezeichnet das als „Integrationsparadox“: Fortschreitende, gelungene Integration von bisher marginalisierten Gruppen erhöhe das gesellschaftliche Konfliktpotenzial. Emotionale Debatten über Fragen wie Kopftuchverbot oder Moscheenbau, „Überfremdung“ und Parallelgesellschaften, Offenheit und Grenzschließungen, Spaltung und „Multikulti“, Diversität und Leitkultur, seien deshalb paradoxerweise Zeichen eines zunehmenden Zusammenwachsens einer pluralistischen Gesellschaft, und nicht ihres Zerfalls. Denn Debatten und Konflikte können eben nur dann entstehen, wenn zwei Seiten, die bisher kaum etwas miteinander zu tun hatten, miteinander in Austausch treten. Und erst im Austausch zeigt sich, dass man manche Dinge ähnlich, viele aber anders sieht. Um einander nachhaltig näherzukommen, müssen diese Meinungsverschiedenheiten offen ausgetragen werden, und das ist mitunter mühsam, anstrengend und schmerzhaft. Niemand hat gesagt, dass es bequem werden wird.

In einer affirmativen Leseweise können gesellschaftliche Konflikte also als Wachstumsschmerzen des Wir verstanden und positiv besetzt werden. So wie das Jucken, Brennen und Kribbeln einer offenen Wunde, die sich langsam wieder zu schließen beginnt, Teil des Zusammenwachsens von Haut, Nervenenden und Muskulatur ist, so muss auch eine Gesellschaft die Debatten, denen wir uns nach den Anschlägen in Wien stellen müssen, aushalten. Das ist schwerer, als Symptome der Wundheilung durch Schmerzmittel, Bandagen und sonstige Hilfsmittel zu unterdrücken, sie zuzudecken und unsichtbar zu machen und damit nur vermeintlich aus der Welt zu schaffen. Denn aus der Medizin wissen wir auch, dass Symptombekämpfung zwar unmittelbare Erleichterung verschafft, aber eben nicht die Ursache der Beschwerden behebt. Unter Umständen kann sie sogar den Heilungsverlauf verzögern, wenn entzündliche Prozesse oder Fieber, die Teil der natürlichen Immunantwort des Körpers sind, gehemmt werden. Für die pluralistische Gesellschaft bedeutet das wiederum, dass wir Konflikte aushalten, aufkommen und ausbrechen lassen dürfen, ja müssen.

Die mitunter schmerzhafte Debatte ums Wir, die uns nach den Anschlägen in Wien nun bevorsteht, ist deshalb so notwendig und unumgänglich, weil sie die radikale Forderung nach Anerkennung und Überwindung von Marginalisierung bedeutet. Das Wir bleibt bestimmend in einer Gesellschaft, in der Gruppenzugehörigkeit die eigene Verwundbarkeit, körperlich, ökonomisch und politisch, determiniert. Soziale Differenz soll weder überwunden oder negiert noch betont oder fetischisiert werden. Sie soll aber unerheblich für die Teilhabe am Wir sein, sowohl rechtlich als auch ökonomisch und kulturell.

Je unterschiedlicher die neu hinzukommenden und die immer schon dagewesenen Mitglieder des Wir sind, desto lauter und brennender werden mitunter die Konflikte und umso heftiger der Schmerz des Zusammenwachsens. Diesen Schmerz nehmen wir in den Tagen und Wochen nach dem 2. November besonders empfindlich wahr – was können, dürfen, müssen wir nun diskutieren und in Frage stellen? Es liegt die Vermutung nahe, dass gerade jetzt viel Friktion entstehen wird. Da gibt es vieles, was hakt, eitert, sich reibt und aufbricht, bevor es schlussendlich zusammenheilen kann. Das bedeutet aber nicht, dass das Zusammenwachsen misslingt, die Wunde offen und die Gesellschaft gespalten bleibt. Den Schmerz als das wahrzunehmen, was er ist – ein unangenehmer, aber unabdingbarer Schritt zu Heilung – ist die beste, ehrlichste und nachhaltigste Chance auf ein starkes Wir, die wir haben.

 

Adaptierter Auszug aus Wir, das im Februar 2021 bei Kremayr & Scheriau erscheint.

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