Was der EU-Migrationspakt enthalten sollte

Judith Kohlenberger
am 28.09.2020

Vor Kurzem stellte die EU-Kommission den lange angekündigten Pakt für Migration und Asyl vor. Einen „frischen Start“ wolle man damit schaffen, wurde im Vorfeld bereits eifrig dafür geworben. Präsentiert wurde schlussendlich viel Altbekanntes und oft Diskutiertes in neuem Gewand, mit einem klaren Fokus auf Grenz- statt Menschenschutz. Ob sich damit eine gemeinsame europäische Linie in der Asylpolitik finden lässt, bleibt fraglich, lässt der Pakt doch einige wesentliche Aspekte offen. Nachstehend ein Versuch, diese Lücken zu füllen.

1) Eine ehrliche Entlastung der EU-Mitgliedstaaten mit Außengrenzen

Erklärtes Ziel des Pakts war, das Gewicht der europäischen Migrations- und Asylpolitik fairer auf alle Mitgliedstaaten zu verteilen. Länder wie Italien, Griechenland und Spanien waren bis zuletzt eindringlich für eine Umverteilung von (anerkannten) Geflüchteten und in weitere Folge eine Reform des Dublin-Systems eingetreten. Durch das Modell der „flexiblen Solidarität“ wurde diesem Wunsch nur teilweise Rechnung getragen: Es besteht die reale Gefahr, dass aufnahme-skeptische Länder wie die Visegrád-Staaten, aber auch Österreich vorrangig auf die Option der sogenannten „Abschiebepartnerschaften“ ausweichen, also bei der Rückführung abgelehnter Asylwerbender mitwirken, anstatt Geflüchtete aufzunehmen. Erst in einer dritten Stufe, nämlich im Fall eines Ausnahmezustands wie im Herbst 2015, ist dieser Solidaritätsmechanismus tatsächlich „verpflichtend“. Gleichzeitig müssen Außengrenzstaaten weiterhin das Gros des Grenzschutzes, von Gesundheitsscreenings bis zu Asylvorverfahren, schultern.

Eine echte Entlastung müsste also einerseits klare Vorgaben und Ressourcen enthalten, um Erstaufnahme und Abschiebungen menschenrechtskonform zu gestalten. Das benötigt entsprechende Mittel und Kompetenzen, nicht zuletzt um den Rückstau von Schutzsuchenden zu verhindern, der derzeit in Moria und anderen Hotspots für katastrophale Zustände für Ankommende und Aufnahmeländer sorgt. Ebenso wäre die schon lang diskutierte Harmonisierung der Verfahren auf europäischer Ebene nun endlich zu konkretisieren.

Andererseits braucht es klare Instrumente, um Mitgliedsstaaten, die sich auch nicht „flexibel solidarisch“ beteiligen möchten, sanktionieren zu können. Eine faire Lastenverteilung kann nur durch eine wesentlich stärkere Einforderung, bis hin zu Verpflichtung, der Beteiligung aller Mitgliedstaaten gelingen.

2) Menschen, nicht nur Grenzen schützen

Dem Sicherheitsbedürfnis der Europäerinnen durch Grenzschutz, Kontrolle und Registrierung von Neuankommenden Rechnung zu tragen, ist so legitim wie überlebenswichtig für die EU. In Sinne eines funktionierenden und humanitären Migrationsmanagements muss Grenzsicherung aber immer mit der Wahrung menschenrechtlicher Verpflichtungen einhergehen, um eben auch für Migrant*innen genau jene Sicherheit zu schaffen, die sich EU-Bürger*innen für sich selbst wünschen. Leider versagt der Migrationspakt in diesem Punkt.

Ein konstruktiv angelegter Pakt muss sich dem annehmen, wofür Asylrecht überhaupt geschaffen wurde: Zum Schutz verfolgter und vertriebener Menschen. Unter anderem braucht es klare Vorgaben, wie mit besonders vulnerablen Gruppen umgegangen wird. Derzeit besteht beispielsweise in Griechenland keine Möglichkeit, Folteropfer, Menschen mit psychischer Beeinträchtigung, alleinstehende Frauen oder LGBTQI-Personen adäquat zu versorgen bzw. ihre Sicherheit zu gewährleisten. All das wird derzeit von NGOs vor Ort spontan und mit unzureichenden Ressourcen geschultert, sodass die EU gerade den Kern jeglicher Asylpolitik, nämlich die Gewährung von Schutz, auslagert.

Zum Schutz von Menschen gehört Rechtsschutz, und auch in diesem Aspekt bleibt der Pakt Details schuldig. Es ist nicht klar, an wen sich abgelehnte Asylwerbende im Falle eines negativen Bescheids (im Rahmen des Vorverfahrens) wenden können, die „entsprechenden Autoritäten“ werden nicht näher spezifiziert. Ebenso fehlen Vorgaben, wie Rechtsbrüche künftig geahndet werden: „Es ist klar, dass es die Europäische Menschenrechtskonvention verletzt, wenn Asylsuchende auf der Straße leben müssen, ohne Zugang zu sauberem Trinkwasser und sanitären Anlagen“, so die Völkerrechtsexpertin Dana Schmalz mit Blick auf Moria. Ein konstruktiver EU-Migrationspakt müsste also weniger neue Verordnungen und Richtlinien schaffen, als vielmehr bestehendes Recht umzusetzen.

3) Dinge beim Namen nennen

Bei der Präsentation des Paktes schlugen sowohl Kommissionspräsidentin von der Leyen als auch die zuständigen Kommissare Johansson und Schinas einen bewusst konstruktiven Ton an. Migration sei „a fact of life“, ließ man da verkünden, sie sei „Normalität“ und bringe für Aufnahmeländer auch viele Vorteile. Diese Vorteile, verbunden mit gewissen Belastungen, wolle man fair auf alle EU-Mitgliedstaaten verteilen. Dafür solle ein „humaner“ Ansatz gewählt werden.

Diese Absichtsbekundungen stehen im starken Kontrast zum Inhalt des Paktes. Er vermittelt das Bild von Migration als andauernde, chronische Krise, die es zu managen, zu kontrollieren und zu bewältigen gilt. Der Fokus auf Management und logistische Details des Asylwesens schlägt sich auch in den mitunter sehr kreativen Begrifflichkeiten für die neuen Instrumente zur Grenzsicherung und Abschottung nieder. Von „Rückkehrförderung“ liest man da, von „flexibler Solidarität“ und unterschiedlichen Formen des „Sponsoring“. Die bürokratische Sprache verschleiert, was hinter den viel zitierten „Abschiebepartnerschaften“ steht, nämlich die finanzielle wie tatsächliche Beteiligung an Deportationen.

Ehrlich gegenüber Mitgliedstaaten und EU-Bürgerinnen wäre es, die Dinge beim Namen zu nennen: Abschottung und Abschreckung haben leidlich wenig mit echter Solidarität zu tun. Es scheint Strategie der Kommission gewesen zu sein, die Migrationsfrage rational und sachlich zu diskutieren, sich auf rein logistische Aspekte zu konzentrieren, um größtmöglichen Konsens zu erlauben. Außer Acht wurde gelassen, dass Asyl und Migration für viele EU-Bürger*innen eben hochemotionale Themen sind, denn immerhin geht es um Sicherheit, Integrität und nicht zuletzt Menschenleben. Trägt die EU der Wahrnehmung der Europäer*innen, aber auch den Lebensrealitäten geflüchteter Menschen durch eine bewusst nüchtern gehaltene Sprache nicht ausreichend Rechnung, so besteht die Gefahr, dass sie den Diskurs wieder den Mitgliedstaaten überlässt, deren nationale Regierungen genau damit vorrangig Wählerstimmen generieren wollen, anstatt an einer tatsächlichen Lösung zu arbeiten.

4) Entschlossenes Vorgehen gegen Gewalt an Europas Grenzen

Im Umgang mit Schutzbedürftigen, mit Minderheiten und Marginalisierten, zeigt sich, wie stark und wehrhaft unsere Demokratie ist. Deshalb geht es bei menschenunwürdigen Zuständen in Moria, bei gewaltsamen Pushbacks an der kroatisch-bosnischen Grenze, bei Treibjagden mit Hunden nicht nur um Geflüchtete, sondern auch um uns selbst: Können wir uns auf die Wahrung unserer Menschenrechte verlassen, wenn es hart auf hart kommt, wenn so richtig heftig an ihnen gezogen und gerüttelt wird? Der Politikwissenschaftler J. Olaf Kleist, Gründer und Vorsitzender des Netzwerks Fluchtforschung, bezeichnete Schutzsuchende als die sprichwörtlichen „Kanarienvögel in der Kohlemine“: An ihnen könne man messen, wie der Zustand einer Demokratie ist, ob in Österreich, in Ungarn oder in der gesamten EU. Nimmt man ihnen die Luft zum Atmen, so besteht die Gefahr, dass sie auch uns bald ausgehen wird.

Was ein zukunftsweisender Pakt deshalb braucht, ist ein ernsthaftes, verpflichtendes, unabhängiges Grenzmonitoring mit dem Ziel, Menschenrechtsverletzungen durch Grenzpolizei oder private Milizen mit voller Härte zur Anzeige zu bringen. Diese Form der Kontrolle muss von bestehenden Organisationen wie Frontex entkoppelt sein, um vollständige Unabhängigkeit zu gewährleisten. Sinnvoll wäre ein tatsächlich unabhängiger Monitoringmechanismus, der an Institutionen wie die Europäische Grundrechteagentur (FRA) gebunden ist, und nicht, wie in der aktuellen Version vorgesehen, allein den Mitgliedstaaten überantwortet wird. Denkbar sind jedoch Kooperationen mit nationalstaatlichen Ombudsstellen gegen Folter, Gewalt und Misshandlung, die den nationalen Parlamenten, nicht aber der jeweiligen Regierung verantwortlich sind. Sie können wesentlich dazu beitragen, Menschenrechtsverletzungen an Europas Grenzen aufzudecken.

Ein solches Grundrechtemonitoring schützt nicht nur geflüchtete Menschen, sondern auch unsere Demokratien. Ländern wie Ungarn und Kroatien würden klare Schranken im Umgang und damit auch in der politischen Instrumentalisierung von Migrant*innen gesetzt. Und nicht zuletzt vergewissern wir uns dadurch selbst, dass grundlegende Dokumente wie die Europäische Menschenrechtskonvention mehr wert sind als das Papier, auf dem sie verfasst wurden.

5) Legale Fluchtmöglichkeiten schaffen

Hinter den vielen neuen Instrumenten des Pakts steht die erklärte Absicht, Schleppern ihre Geschäftsgrundlage zu entziehen und dafür Sorge zu tragen, dass sich Menschen gar nicht erst auf den teuren und gefährlichen Weg nach Europa machen. Übersehen scheint bei all den vorgeschlagenen Abschottungs- und Abschreckungsmaßnahmen jedoch, dass die tatsächlichen Fluchtursachen in den Herkunftsländern der Schutzsuchenden unberührt bleiben. Zahlreiche Krisenherde auf dieser Welt, noch befeuert von der voranschreitenden Klimakatastrophe, lassen vermuten, dass sich auch zukünftig Menschen aus Krieg und Verfolgung, aber auch wirtschaftlicher Not heraus auf den Weg nach Europa machen. Diesen Menschen muss der Pakt legale, sichere Alternativen zu Schlauchbooten und Kühltransportern bieten.

Ein zukunftsweisender Pakt braucht außerdem Ideen und Instrumente dafür, wie mit dem zunehmenden Phänomen der gemischten Migration umgegangen werden soll, denn in der Realität gehen Flucht- und Migrationsgründe oft ineinander über und lassen sich schwer voneinander trennen. So kann ein langanhaltender gewaltsamer Konflikt zu ökonomischer Deprivation führen. Ist der Mensch, der deshalb seine Heimat verlässt, ein Flüchtling oder ein reiner Wirtschaftsmigrant? Welche Möglichkeiten zur legalen Einreise haben Menschen, die vor politischer oder religiöser Verfolgung fliehen? Wie können wir sicherstellen, dass Kriegsvertriebene in Europa Sicherheit finden, ohne sich ein weiteres Mal auf dem Mittelmeer in Lebensgefahr zu begeben?

Antworten darauf bleibt der Pakt schuldig. Dabei sollte fünf Jahre nach 2015 allen klar sein: Solange wir keine legalen Fluchtmöglichkeiten schaffen, werden sich Menschen weiterhin in die Hände von Schleppern begeben, um Elend und Krieg zu entkommen – egal wie abschreckend Europa seine Asylpolitik gestaltet.

Die Autorin bedankt sich bei Lucas Rasche am Jacques Delors Centre der Hertie School Berlin für wertvolle Anmerkungen.

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