Virtuelle Normalität

Lukas Schlögl
am 27.09.2020

Die zweite Corona-Welle rollt in Österreich heran. Und mit steigenden Infektionszahlen kommt auch das Thema „Home Office“ zurück – wenn es denn je verschwunden war. Hochschulen aller Länder bereiten sich auf ein weiteres Semester digitaler Lehre vor und immer mehr Unternehmen machen Arbeiten von Zuhause zu einer permanenten Option. Die Walisische Regierung hat jüngst gar ein permanentes Ziel von 30 Prozent Heimarbeit ausgerufen und den angestrebten Wandel der Arbeitskultur mit einer verbesserten „Work-Life Balance“ und mit dem Schutz der Umwelt begründet. In Deutschland wird derzeit ein Gesetzesentwurf vorbereitet, der ein Recht auf „Home Office“ gewähren soll.

Tatsächlich ist die Trennung von Wohnraum und Arbeitsplatz eine historisch eher junge Entwicklung. Bis ins 19. Jahrhundert hinein war das Arbeiten in den eigenen vier Wänden, in privaten Werkstätten und kleinen Landwirtschaften eine dominierende Arbeitsform. Das sogenannte „domestic system“ wurde erst durch die Industrielle Revolution abgelöst, welche Arbeitsteilung, Mechanisierung – und mit dem Fabrikbetrieb auch einen neuen Arbeitsort brachte. Die Produktion verlagerte sich dabei nicht nur aus dem privaten in den öffentlichen, sondern verstärkt auch in den städtischen Raum.

Fabriksystem und Urbanisierung zeitigten ihrerseits politische Entwicklungen: die Entstehung kollektiver Identitäten und Gruppensolidarität, ein gewisses Klassenbewusstsein, Möglichkeiten (arbeits-)politischer Organisation und letztlich das Entstehen einer Industriedemokratie. Mit der Vertreibung der – zunächst männlichen – Erwerbsarbeit aus dem Privathaushalt entstand eine Berufs-Öffentlichkeit.

Die Dienstleistungsgesellschaft im 20. Jahrhundert änderte vieles am Gegenstand der Arbeit, aber deren Organisationsform blieb im Kern industriell. Viele arbeiten nun zwar nicht mehr am Fließband, sind dafür aber in „Denkfabriken“ tätig: in Schulen, in Institutionen der öffentlichen Verwaltung, in den Verwaltungsebenen der Unternehmen, in Forschungseinrichtungen u.v.m. Da die postindustrielle Produktion weiterhin betrieblich organisiert ist, haben auch die politischen Formen des Industriezeitalters weiter Bestand. Im Amerikanischen spricht man zum Beispiel von „Water Cooler Politics“, womit das informelle Politisieren im KollegInnenkreis in der Mittagspause rund um den Getränkeautomaten gemeint ist.

Die zunehmende Digitalisierung und Immaterialisierung im 21. Jahrhundert stellt eine räumliche Trennung von Arbeits- und Privatsphäre grundsätzlich in Frage. Wozu pendeln, wenn Emails sich von überall aus beantworten lassen? Wozu Präsenzarbeit, wenn, wie die Wirtschaftssoziologin Shoshana Zuboff bereits früh erkannte, die moderne Firma immer mehr zu einer „Datenbank“ mutiert?  Die Corona-Krise gibt uns Gelegenheit, über diese langfristigen Entwicklungen zu reflektieren – denn der aktuelle Ausnahmezustand ist ein Vorbote der Zukunft der Arbeit.

Demokratische Politik, wie wir sie bisher kennen, braucht den Stammtisch, die Straße, den Diskurs von Angesicht zu Angesicht, die Deliberation – auch am Arbeitsplatz. Es reicht nicht, alle paar Jahre hygienisch eine Briefwahlkarte abzugeben. Der Politologe Robert D. Putnam konstatierte bereits vor zwanzig Jahren das Verschwinden gemeinschaftsbezogener Aktivitäten wie zivilem Engagement und sogar von Sportvereinen – sein berühmtes Buch trug den Titel „Bowling Alone“. Die Erosion des Sozialkapitals, so Putnam, höhle letztlich einen Grundpfeiler der amerikanischen Demokratie aus. Corona wirft die Frage auf, ob eine immer virtuellere, individualisierte Erwerbstätigkeit – „Working Alone“, gewissermaßen – auf Dauer ähnliche Probleme für die Kohäsion unserer Gesellschaft bedeutet.

Keine Frage: Arbeiten von Zuhause ist heute eine privilegierte Form des Erwerbs; das zeigen uns empirische Studien. Es ist aber eine Form, die auf dem Vormarsch und – nicht zuletzt dank auf Hochtouren laufender Innovation – technologisch immer besser umsetzbar ist. In den USA wird mittlerweile von „Zoom Towns“ berichtet, benannt nach der populären Videokonferenz-Plattform Zoom, die Yuppies eine Alternative zur überteuerten Westküste bieten. Folgt auf die Landflucht der industriellen die Stadtflucht der virtuellen Revolution?

Das Privileg „Home Office“ bedeutet, dass gerade jene sozialen Gruppen, denen in der politischen Theoriebildung eine besonders aktive zivilgesellschaftliche Rolle zukommt – den WissensarbeiterInnen, altmodischer: der bürgerlichen Mittelschicht – besonders intensiv von der Virtualisierung der Arbeit betroffen sind. Corona gibt uns einen Vorgeschmack davon. Genauso wenig, wie wir heute wissen, was Online-Lehre für die Sozialisation der heranwachsenden Generation bedeutet, wissen wir auch noch nicht, wie die virtuelle Normalität der Arbeitswelt sich auf Dauer auswirkt. Es ist eine gute Zeit, darüber nachzudenken.

 

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