Utopie der unheimlichen Freundschaften

Janina Loh
am 21.09.2020

Kennen Sie dieses Gefühl eines leichten Schauers, der Ihnen etwa beim Anblick eines Zombies bei The Walking Dead den Rücken herunterläuft? Erinnern Sie sich noch an das ‘eiskalte Händchen’ der Addams Family, das Ihnen ein wohliges Gruseln bescherte? Oder – ein bisschen aktueller – dieses süße Erschrecken, wenn Sie feststellen, dass das zum Verwechseln menschlich wirkende Wesen aus der Serie Westworld doch ein Android ist – wobei Ihnen das lediglich deshalb auffällt, weil der fragliche Roboter einen Defekt aufweist?

In solchen und ähnlichen Momenten begeben Sie sich ins sogenannte “uncanny valley”, in  das unheimliche Tal, das Masahiro Mori vor 50 Jahren entdeckte. Mori stellte 1970 fest, dass wir anthropomorphe, also menschenähnliche, künstliche Wesen wie etwa Roboter oder Comicfiguren umso sympathischer finden, desto menschlicher sie werden – wobei uns dabei klar ist, dass es sich nicht um Menschen handelt. Es gibt allerdings einen Punkt, an dem die Sympathie gegenüber den anthropomorphen Kunstfiguren radikal kippt bzw. fällt – eben in das besagte unheimliche Tal.

Hier halten sich jene Wesen auf, die wir nicht genau einschätzen können, von denen wir nicht mit Sicherheit wissen, ob sie tot oder lebendig sind (etwa der Zombie), menschlich oder nicht menschlich (das ‘eiskalte Händchen’), belebt bzw. beseelt oder unbelebt, unbeseelt (der Roboter). Das, was wir nicht richtig in unser binäres Denken, in die uns zur Verfügung stehenden und unser Weltbild sortierenden Kategorien einordnen können, ist uns unheimlich.

Diese Wesen sind uns nicht geheuer, vermutlich, weil wir meinen, ihnen nicht über den Weg trauen, sie nicht vollständig und mit Sicherheit unter unserer Kontrolle wissen zu können. Die Kunstkreaturen werden uns erst dann wieder sympathisch, und damit bewegen wir uns auf der anderen Seite aus Moris unheimlichen Tal heraus, wenn sie uns so ähnlich sind, dass wir sie gar nicht mehr von uns unterscheiden können – wie die Roboter aus Westworld, so lange sie keinen Defekt aufweisen.

Zwischen Menschen und Nichtmenschen zu unterscheiden und auf Annäherungen an das Menschliche in Form von Anthropomorphisierungen zunächst einmal positiv zu reagieren, ist für uns also ein gewohntes Phänomen und tief in unseren Gesellschaften verwurzelt. Damit korreliert auch unser ethisches Denken, dass Menschen irgendwie wichtiger sind als Nichtmenschen, dass sie vielleicht sogar die einzigen Wesen im moralischen Universum sind, die einen intrinsischen, absoluten oder Eigenwert haben – also den höchsten Wert, den wir etwas zuschreiben können.

Diese Sicht der Dinge nennen wir Anthropozentrismus und meinen damit den moralischen Sonderstatus, den Menschen gegenüber Nichtmenschen innehaben. Alle anderen Wesen erhalten unter einer anthropozentrischen Perspektive einen niedrigeren, extrinsischen oder instrumentellen Wert, den sie nicht um ihrer selbst willen, sondern immer nur für die Menschen haben.

Zwar gibt es Alternativen zum Anthropozentrismus wie etwa den Pathozentrismus, der allen leidensfähigen Wesen und damit also auch einigen Tieren einen absoluten Wert zuschreibt. Doch auch hier geben die Menschen den moralischen Standard ab, indem sie selbst es sind, die definieren, was Leidensfähigkeit ist und welche Tiere demzufolge nach dem menschlichen Verständnis von Leidensfähigkeit einzuschätzen und moralisch zu bewerten sind.

Es braucht nicht viel, um festzustellen, dass diese Weise ethischen Kategorisierens, Denkens und Urteilens, die für uns so selbstverständlich wie ein Naturgesetz ist, gewisse Herausforderungen mit sich bringt, um nicht zu sagen, handfeste Probleme aufweist.

Denn durch diesen Fokus auf eine Gruppe von Wesen, die entweder als Menschen interpretiert oder zumindest nach menschlichen Maßstäben bewertet werden, denen wir den höchsten denkbaren moralischen Wert zuschreiben, schließen wir automatisch alle anderen Wesen (Tiere, Pflanzen, Maschinen) aus dem Zentrum des moralischen Universums aus. Wir gestehen diesen Wesen entweder nur einen deutlich geringeren moralischen Wert zu, woraus folgt, dass wir uns ihnen gegenüber anders verhalten dürfen als gegenüber den Wesen, die über einen intrinsischen Wert verfügen. Oder wir nehmen sogar an, dass sie gar keinen moralischen Wert haben, was bedeutet, dass wir uns ihnen gegenüber so verhalten dürfen, wie wir wollen.

Um es auf den Punkt zu bringen, sind unsere für gewöhnlich genutzten ethischen Denksysteme und -gewohnheiten strukturell exkludierend und damit tendenziell diskriminierend. Diskriminierung ›nach Innen‹ (wenn Menschen sich gegen Menschen richten) kennen wir etwa als Rassismus und Sexismus, ›nach Außen‹ (wenn sich Menschen gegen Nichtmenschen richten) zum Beispiel als Speziesismus.

Gibt es einen Ausweg aus diesem Dilemma? Oder sind wir tatsächlich notwendigerweise dazu verdammt, aufgrund unserer Konzentration auf das moralische Handlungssubjekt (meistens eben exklusiv die Menschen) immer all die anderen (nichtmenschlichen) Wesen auszuschließen und moralisch abzuwerten, zu diskreditieren, zu diskriminieren?

Natürlich nicht! Ethik ist kein Naturgesetz. Unsere Weise, die Welt zu sehen und alles in ihr zu ordnen, in Kategorien aufzuteilen und zu bewerten, ist zwar ohne Frage tief in uns verankert – so tief, dass sie bei Vielen ein Gefühl des Gruselns hervorruft, wenn wir irgendetwas begegnen, das wir nicht sofort und mit Eindeutigkeit in unsere gewohnten Schubladen räumen und ihm damit zugleich einen Platz in unserem moralischen Universum zuweisen können. Zweifellos müssen wir auch in vielen Alltagssituationen schnell darüber entscheiden, ob etwas bspw. ein Mensch oder ein Nichtmensch ist, unser Strafrecht baut auf dieser Unterscheidung, unser ganzes gesellschaftliches, politisches und ökonomisches Denken ebenso. So einfach entkommen wir dieser Sache also nicht.

Eine gerne gegebene Antwort auf die Frage nach der Alternative lautet, dass wir dann eben einfach eine neue Theorie vom moralischen Handlungssubjekt brauchen. Wir müssen die Gruppe derjenigen, die in unserem moralischen Universum den höchsten Wert erhalten, größtmöglich erweitern, müssen uns (um in Moris Metaphorik zu bleiben) in dem unheimlichen Tal neue Freundinnen und Gefährtinnen (im Folgenden werden alle Geschlechter in der weiblichen Form mit gemeint) suchen, die wir in unseren Kreis der moralisch am Besten Gestellten integrieren.

Aber jede neue Theorie vom moralischen Handlungssubjekt produziert wieder neue Ausgeschlossene, jene, die uns unheimlich bleiben, die wir nicht in unseren Reihen wissen wollen. Und das muss wohl oder übel auch so sein, denn hätten alle Wesen, menschliche wie nichtmenschliche, einen moralischen Eigenwert, wäre moralisches Handeln schlicht unmöglich. Und gäbe es nichts, was moralisch irrelevant ist, würde vermutlich jede Situation, in der moralisches Handeln gefordert wäre, zu komplex und undurchsichtig, als dass wir ohne allzu viel nachdenken zu müssen, wüssten, was von uns jeweils moralisch gefordert ist.

Nein, es hilft nichts, wir müssen anders vorgehen. Wagen Sie mit mir ein utopisches Gedankenexperiment? Denn Utopien, also positive Visionen von unserer Gesellschaft, sind so dringend nötig in dieser Zeit, in der wir in Filmen und Serien fast ausschließlich Dystopien vorgehalten bekommen, also Zukunftsszenarien, die Möglichkeiten vorstellen, wie unsere Welt unweigerlich zum Teufel gehen wird, wenn wir nichts ändern.

Stellen wir uns im Gegensatz dazu einmal vor, wir würden diesen so tief in uns verankerten Fokus auf das moralische Handlungssubjekt, der immer und immer wieder in uns Exklusions- und Diskriminierungsbewegungen provoziert, radikal verschieben. Aber wohin? Wenn die Relata, also die Subjekte, nicht mehr im Mittelpunkt stehen, wer oder was kann es denn dann?

Nun, mein Vorschlag wäre, es einmal mit einer Konzentration auf die Beziehungen, die Relationen, zu versuchen. Nicht die Subjekte sind den Beziehungen, die sie miteinander eingehen, vorgängig, denn es gibt schlicht keine autonomen, autarken, monadischen Subjekte. Sondern die Beziehungen erschaffen erst das, was wir rein oberflächlich als selbstständige Subjekte erkennen. Oder, wie es die zwei kritischen Posthumanistinnen Karen Barad und Donna Haraway sagen, »Beziehungen hängen nicht von ihren Relata ab, sondern umgekehrt.« (Barad) »Wesen […] existieren nicht vor ihren Verhältnissen und Beziehungen.« (Haraway)

Wenn wir eine Ethik formulieren, die nicht mehr darauf baut, moralische Individuen zu definieren, sondern die sich auf Beziehungen richtet, würde sich sicherlich einiges ändern. Und ohne Zweifel ergäben sich aus dem fluiden, dynamischen Subjekt, das sich ständig wandelt und abhängig von einer konkreten Beziehung immer anders aussehen kann, auch große Herausforderungen. Aber Utopien realisieren sich nicht von allein. Wir müssen uns für sie einsetzen und uns irgendwann auf den Weg, der zu ihnen führt, begeben.

Ich stelle mir eine Welt, in der es nicht um Freundinnen, sondern um Freundschaften, nicht um Gefährtinnen, sondern um Gefährtinnenschaften, geht, sehr schön vor. Diese Beziehungen und Bündnisse dürfen auch immer ein wenig uncanny, unheimlich, bleiben, weil sie ja je konkret anders sind und immer andere Wesen erschaffen. Ich möchte in einer Gesellschaft leben, in der es keine Rolle mehr spielt, wie sich diejenigen, die in Beziehungen eingebunden sind, verstehen – ob als Menschen, Tiere, Maschinen, Pflanzen oder als was auch immer -, bzw. als welche spezifischen Wesen einer jeweiligen Spezies sie sich begreifen – ob als Frauen, als Queers, als Morianerinnen, als Menschen mit einer besonderen körperlichen Konstitution, als people of colour oder als jemand ganz anderes. Sondern mich interessiert, was das für Beziehungen sind, durch die ‘sie’ entstehen. Eine Gesellschaft der Freundschaften und Gefährtinnenschaften – das ist meine Utopie einer inklusiven Ethik.

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